Störung des öffentlichen Friedens

Justiz und Politik tun sich schwer mit der strafrechtlichen Ahndung der Leugnung des Holocaust / Ein jüngst verabschiedetes neues Gesetz soll klare Verhältnisse schaffen – doch es entstehen neue Schlupflöcher  ■ Von Hans-Christian Ströbele

Im Mölln-Prozeß hatte ein 24jähriger Freund des Angeklagten im letzten Oktober auf Fragen nach seinem und des Angeklagten Verhältnis zur Nazizeit ausgesagt, es könne schon sein, daß sie gut fanden, was die Nazis gemacht haben. Er sei dafür, daß „Dritte Reich“ wieder einzuführen, ergänzte er etwas trotzig. „Nur nicht das mit den Juden“, fügte er leiser hinzu.

Dieser junge Nazi ist nicht der einzige, der so denkt, in Mölln und anderswo in Deutschland.

Günter Anton Deckert zum Beispiel, er ist Vorsitzender der NPD. Er hatte zu einem öffentlichen Vortragsabend in Weinheim mit dem US-amerikanischen „Hinrichtungsexperten“ Fred Leuchter geladen. Dieser behauptete, seine Untersuchungen in Auschwitz, Birkenau und Majdanek hätten ergeben, daß es in den Vernichtungslagern keine Gaskammern gegeben und demzufolge der Massenmord an Juden nicht stattgefunden habe. Er sprach von „Gaskammerlüge“ und „Gaskammermythos“. Deckert übersetzte und kommentierte zustimmend.

Im Wahlwerbespot der NPD zur Europawahl war Deckert persönlich zu sehen. Er fordert Meinungsfreiheit in Europa unter Anspielung auf seine Veranstaltung mit dem „Hinrichtungsexperten“ und auf das deswegen gegen ihn laufende Strafverfahren.

Ein Zusammenhang zwischen der Aussage des Jungnazis aus Mölln und der Propaganda des NPD-Vorsitzenden drängt sich auf. Eine neue Generation von Rechtsradikalen in Deutschland findet „gut, was die Nazis von 1933 bis 45 gemacht haben“, wünscht sich die Naziherrschaft zurück. Was stört, ist der Massenmord an den Juden. Dieses grauenhafte Verbrechen steht einer vorbehaltlosen Zustimmung zur Naziherrschaft entgegen. Der NPD-Parteichef versucht Abhilfe zu schaffen, indem er „wissenschaftlich“ und öffentlich den Nachweis zu erbringen sucht, die Massenmorde hätten gar nicht stattgefunden.

Das Leugnen des Massenmordes in den deutschen Konzentrationslagern dient nicht nur dazu, „einem ehemals stolzen Volk die Schuld einer abscheulichen Sünde“ zu nehmen, wie auf der Veranstaltung in Weinheim formuliert worden war. Das Leugnen der geschichtlichen Tatsachen soll deutsche Nazis heute wieder gesellschaftsfähig und letztlich auch wieder wählbar machen.

Denunziantin verurteilt, Richter freigesprochen

In Deutschland träumen die Neonazis davon, nicht mehr um ihre eigentlichen Ziele herumreden zu müssen, sich wieder offen und ungeschminkt zur deutschen Nazivergangenenheit zu den „Idealen“ der NS-Zeit zu bekennen und für diese Propaganda machen zu können. 1979 hatte ein bundesdeutsches Obergericht im Leugnen der Ermordung von Millionen Juden deshalb auch die Tendenz gesehen, „den Nationalsozialismus vom Makel des Judenmordes zu entlasten und rechtsradikalen Gruppen zu neuem politischen Ansehen und Einfluß zu verhelfen“.

Die Leugnung von Auschwitz wird gebraucht, um die Renaissance der Nazis zu ermöglichen und vorzubereiten. Die Würde der Ermordeten, ihrer Familien und ihres Volkes wird erneut verletzt, um dieses Ziel zu erreichen.

Der Kampf gegen die Auschwitzleugnung und gegen die Rückkehr der Nazis in die deutsche Politik ist in erster Linie eine politische Aufgabe, eine der wichtigsten in den nächsten Jahren. Staatliche Verbote und strafrechtliche Sanktionen können das Leugnen der Massenmorde der deutschen Nazis genausowenig vollständig verhindern, wie die steigende Zahl antisemitischer Gewalttaten. Nur bedingt können damit die Auschwitzleugnung aus der Öffentlichkeit verbannt und nur auf Zeit die Nazis niederhalten werden. Aber für den Schutz der Würde der Menschen muß eine Strafrechtsnorm zur Verfügung stehen, die auch angewandt wird.

Die bundesdeutsche Justiz hat schon bei der strafrechtlichen Ahndung der Naziverbrecher häufig versagt, nicht nur, als sie auch den Blutrichtern das „Richterprivileg“ zuerkannte.

So brachten deutsche Gerichte es fertig, eine Denunziantin, die einen Pfarrer an die Gestapo verraten und dem Todesurteil des Volksgerichtshofes ausgeliefert hatte, nach dem Krieg zu mehreren Jahren Zuchthaus wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen, den Richter aber, der an dem mörderischen Todesurteil mitgewirkt hatte, freizusprechen. Jeweils mit einer ordentlichen juristischen Begründung – versteht sich.

Das ging so: Dr. Metzger, ein katholischer Geistlicher aus der Una-Sancta-Bewegung, hatte Ostern 1943 eine Denkschrift verfaßt, in der er Vorstellungen für eine künftige christliche, soziale, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung für Deutschland niedergelegt hatte. Als er das Papier an den schwedischen Bischof Eidem leiten wollte, geriet es an Irmgard G. Diese informierte die Gestapo. Dr. Metzger wurde durch den Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet. Auf dem Richterstuhl saß auch Kammergerichtsrat R. Der Prozeß dauerte insgesamt eine Stunde und die Urteilsberatung weniger als zehn Minuten.

Im Jahre 1956 qualifizierte der Bundesgerichtshof (BGH) im Verfahren gegen die Denunziantin die Verhandlung gegen den Geistlichen als „Ausnutzung gerichtlicher Formen zur widerrechtlichen Tötung“. Die Frau wurde wegen Beihilfe zur Tötung des Pfarrers verurteilt.

Zwölf Jahre später, als Kammergerichtsrat R. wegen seiner Mitwirkung an zahlreichen Todesurteilen des Volksgerichtshof selbst in Berlin vor Gericht stand, wurde derselbe Prozeß des Volksgerichtshofes gegen Dr. Metzger aus dem Jahr 1943 ganz anders beurteilt. Nach dem Urteil des BGH im Jahr 1968 hatte der Kammergerichtsrat im Volksgerichtshof die Stellung eines Berufsrichters innegehabt, der richterliche Gewalt durch ein unabhängiges, nur dem Gesetz unterworfenen Gericht ausgeübt habe. Und das Berliner Schwurgericht urteilte 1968, „daß der damalige Angeklagte Dr. Metzger in einer seine Rechtsstellung einschränkenden Weise in der Verteidigung“ nicht gehindert wurde. Der Vorsitzende habe den Priester zwar jeweils nach zwei bis drei Sätzen unterbrochen, wenn er sich zu seiner Verteidigung äußern wollte, habe ihn auch gedemütigt und in der mündlichen Urteilsbegründung als „Pestbeule“ beschimpft. Doch Dr. Metzger habe sich nicht einschüchtern lassen, sondern unbeirrbar mutig zu seiner Tat und ihren Beweggründen gestanden. Es habe auch keine Beratung und Abstimmung im Richterzimmer vor dem Urteil stattgefunden. Aber eine Abstimmung hätte am Ergebnis nichts geändert, nämlich der Verhängung der Todesstrafe. Der Richter am Volksgerichtshof wurde freigesprochen, obwohl er es war, der das Todesurteil verhängt und den Geistlichen damit dem Henker überliefert hatte. Es blieb der einzige Richter des Volksgerichtshofes, der in der Bundesrepublik vor Gericht gestellt wurde.

Dieser Freispruch mag eine Ermutigung für 1968 noch lebende furchtbare Juristen gewesen sein. Für die Opfer der Nazi-Justiz war es eine Verhöhnung. Für uns junge 68er Juristen in Berlin war es ein Signal zum Aufstehen gegen die bundesdeutsche Justiz.

Justiz und Politik haben sich auch mit der strafrechtlichen Bekämpfung der Auschwitzleugnung bis heute schwergetan. Die Richter des Bundesgerichtshofes (BGH) waren über das Aufsehen erstaunt, das ihr Urteil vom 15. März dieses Jahres in der Öffentlichkeit hervorgerufen hatte. Sie hatten doch nur eine jahrzehntealte Rechtsprechung fortgesetzt. Sie hatten die Verurteilung Deckerts wegen Volksverhetzung durch Verbreiten der „Auschwitzlüge“ aufgehoben. Doch die Begründung des höchsten Strafgerichts war dieselbe wie in vorangegangenen Urteilen, „das bloße Bestreiten der Gaskammermorde“ an sechs Millionen Juden durch die deutschen Nazis reiche für eine Verurteilung wegen Volksverhetzung nicht aus. Notwendig sei schon die „qualifizierte Auschwitzlüge“. Nur dann richte sich der Angriff, der in der öffentlichen Leugnung der Massenmorde an Juden liege, gegen „den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit“. Für die Annahme der „qualifizierten Auschwitzlüge“ muß vor Gericht bewiesen werden, nicht nur, daß der Täter die Massenmorde in Auschwitz oder Majdanek leugnet, sondern auch, daß er „sich mit der nationalsozialistischen Rassenideologie identifiziert“ oder daß er „die Tatsache der systematischen Morde an Juden als Lügengeschichte darstellt, absichtlich erfunden zur Knebelung und Ausbeutung Deutschlands zugunsten der Juden“.

Erster Gesetzesentwurf schon unter Schmidt

Bereits in den siebziger Jahren hatte diese Rechtsprechung zu Kopfschütteln und zu der Forderung nach einer besonderen gesetzlichen Strafvorschrift für die Auschwitzleugnung geführt.

Die Regierung Schmidt hatte deshalb im September 1982 einen Gesetzentwurf vorgelegt, der eine neue Vorschrift ins Strafgesetzbuch aufnehmen wollte, wonach das Billigen, Leugnen und Verharmlosen des Nazi-Völkermordes öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften mit Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren bestraft werden sollte. Am Widerstand der CDU/CSU scheiterte diese Gesetzesvorlage damals.

Die Pläne für eine Änderung der Vorschrift zur Volksverhetzung oder für neue Paragraphen zur Bestrafung der einfachen Auschwitzleugnung wurden fallengelassen.

Statt dessen fand die Koalition 1985 zu der Einsicht, es genüge, wenn die Auschwitzleugnung als Beleidigung bestraft werde. Beleidigungen werden aber grundsätzlich nur auf Antrag der Beleidigten verfolgt. Da das Stellen eines Strafantrages den Juden nach Auffassung der Abgeordneten nicht zugemutet werden sollte, mußte die Vorschrift geändert werden. Das Antragserfordernis sollte entfallen, wenn mittels der Auschwitzleugnung beleidigt wird. Einige Abgeordnete aus der Union sahen darin eine nicht hinnehmbare einseitige Erleichterung der Strafverfolgung für die Auschwitzleugnung. Sie verlangten, auch die Verbreitung der „Vertreibungslüge“ müsse ohne Antrag bestraft werden können. „Vertreibungslüge“, das war das Leugnen der Vertreibung von Deutschen aus den Ostgebieten und der dabei erlittenen Gewalt und Willkür.

Die Gleichsetzung des Massenmordes an den Juden und der Gewalt bei der Vertreibung wurde Gesetz. Am 25. April 1985 beschloß der Deutsche Bundestag, daß ein Strafantrag für eine Strafverfolgung wegen eines Beleidigungstatbestandes nicht erforderlich sein soll, wenn der Verletzte als Angehöriger einer Gruppe „unter der nationalsozialistischen oder einer anderen Gewalt- und Willkürherrschaft“ verfolgt wurde. Der Beleidigte mußte danach selbst verfolgt gewesen und nach dem Gesetz die Gruppe auch noch Teil der inländischen Bevölkerung sein. Eine komplizierte Gesetzesregelung mit vielen Wenn und Aber, also mit vielen Hintertürchen. Sie hat die Richter des BGH 1994 nicht gehindert, auch die Verurteilung Deckerts wegen Beleidigungstatbeständen aufzuheben – das Landgericht Mannheim hatte ihn auch wegen übler Nachrede und Verunglimpfung des Ansehens Verstorbener verurteilt.

Schlupflöcher des neuen Gesetzes

Immerhin hatten das Urteil des BGH und die darauf folgende öffentliche Diskussion auch ein positives Ergebnis: Am Freitag vor Pfingsten wurde vom Bundestag ein neues Gesetz gegen die Auschwitzleugnung verabschiedet. Es entspricht weitgehend dem Vorschlag der SPD aus dem Jahr 1982. Fast. In Zukunft ist das öffentliche Billigen, Verharmlosen und Leugnen des unter der NS- Herrschaft begangenen Völkermordes als Volksverhetzung strafbar. Allerdings nur, wenn die Auschwitzleugnung in einer Weise begangen wird, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.

Den Schaden, der durch das Urteil des BGH entstanden ist, kann dieses Gesetz nicht wiedergutmachen. Aber es ist auch keineswegs sicher, daß in Zukunft die Voraussetzungen für die Störung des öffentlichen Friedens in jedem Fall des Leugnens oder Verharmlosens des Völkermordes auch nach Auffassung der Gerichte gegeben sein werden. Schon bei der Diskussion zur Bestrafung der Auschwitzleugnung im Jahre 1985 hatte ein Ministerialrat des Bonner Justizministeriums mit Blick auf eine solche Regelung gewarnt, möglicherweise müßte teilweise freigesprochen werden, weil oft entweder eine mögliche Gefährdung des öffentlichen Friedens oder aber der Vorsatz, der sich auf die Eignung zur Friedensstörung erstrecken müßte, nicht nachgewiesen werden kann.

Der NPD-Vorsitzende Deckert hat das BGH-Urteil schon reichlich propagandistisch genutzt und öffentlich als Erfolg gefeiert, auch wenn er keineswegs freigesprochen wurde. Der BGH hatte die Sache an das Landgericht zurückverwiesen, das neu entscheiden muß. Selbst wenn es – wie zu erwarten ist – doch noch zu einer Verurteilung kommt, Deckert sieht sich einen Schritt weiter auf dem Weg zu dem Ziel, die deutsche Nazivergangenheit vom Makel des Massenmordes an den Juden zu befreien. Nicht die Feinheiten einer Urteilsbegründung sind es, die in der Öffentlichkeit Wirkung entfalten. Das Signal dieses höchstrichterlichen Urteils bleibt: die Verurteilung wegen der Verbreitung der Auschwitzleugnung wurde aufgehoben.

Nicht daß deshalb italienische Verhältnisse drohen, mit Neonazis anstelle von Neofaschisten in der Politik. Aber der Jungnazi aus Mölln und seine Gesinnungsfreunde könnten in dem Urteil eine Chance sehen, ihre Bewunderung für Hitler-Deutschland – nicht nur für Autobahnbau und Arbeitslosenpolitik, sondern auch für die Mißhandlung der Minderheiten und für den Krieg – ungehemmter zu vertreten.

Das neue Gesetz allein wird dagegen nicht viel nützen. Aber den Schutz der Würde der von deutschen Nazis Ermordeten und ihrer Angehörigen könnte es in Zukunft besser sichern helfen. Wenn auch die Richter am Bundesgerichtshof mitmachen.

Christian Ströbele arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin