Philosophie des Phussballs

■ "Jenseits vom Abseits - Die Intellektuellen und ihr Fußball", 23 Uhr, ARD

Morgen ab 21 Uhr rollt im Soldier-Field-Stadion in Chicago der Fußball. Die bundesdeutschen Kicker sind mindestens so überaltert wie die Intellektuellen-Elf, die Goggo Gensch in seinem Fernsehfilm heute zum Vorspiel antreten läßt. Weil die Jungs nicht genug Puste haben, dauert das Spiel nur eine Halbzeit.

Im Kasten steht mit der Nummer eins Otto Sander. Mit Gedichten von Grass, Wolf, Harig und Handke trotzt er der Angst des Tormanns beim Elfmeter. Die Vierer-Abwehrkette besteht aus dem Germanisten Helmut Böttiger, dem Theaterregisseur Jürgen Bosse, Horst Breedekamp und Peter Iden, der ein beinharter rechter Verteidiger sein soll.

Im literarischen Mittelfeld tummelt sich der akademische Spielmacher Walter Jens, der wegen seiner Ost-Transfers nicht unumstritten ist. Ferner spielt Uwe Karstensen, früher Mainz 05, heute Fischer Verlag. Vor ihm tritt Regisseur Jürgen Flimm das Leder. „Seit der Schließung des Schiller Theaters steht Bernhard Minetti auf der Transferliste.“ Seine Spezialität: Er ahmt das Verhalten des Gegenspielers nach, bis dessen Nerven blankliegen.

Im Sturm kickt Ludwig Harig. Der Saarländer kam wie Netzer „aus der Tiefe des Raumes“ und verhalf dem deutschen Fußball daeinst zum Aufstieg in die Literaturliga. Heute ist er reamateurisiert. Forsch am Ball zeigt sich Trini Trimpop von den „Toten Hosen“, mit viel Spielübersicht agiert Libero F.C. Delius mit seinem Dribbelroman „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“.

Der SDR-Filmemacher Goggo Gensch ist angetreten, um das letzte Geheimnis des Mannes zu enträtseln: die Abseitsfalle. Gott sei Dank mißlingt ihm das. Denn wie schon Sartre sagt: „Beim Fußball kompliziert sich alles durch das Vorhandensein des Gegners.“ Der besteht in diesem Fall aus ballverliebten Akademikern, die die taktische Ein- und Aufstellung des Schwaben mit Argusaugen verfolgen. Das Spiel kommt leidlich in Schwung. Man schiebt sich die Bälle flach zu und spielt für die Galerie.

Viel zu selten kommt Gensch tatsächlich „aus der Tiefe des Raumes“. Es wird zuwenig über die Flügel gespielt und deswegen zuwenig Druck auf den Gegner ausgeübt. Das Spiel der Literaten und Schauspieler ist allzu durchsichtig und birgt kaum wirkliche Überraschungen. Zu überzeugen vermag Gensch nur mit seinen Sololäufen durch die Kulturgeschichte des Fußballs: Aldous Huxley durchschritt die „Pforten der Wahrnehmung“ (die wir heute korrekt als Torpfosten identifizieren) und befand, der Fußball sei der wichtigste Beitrag Englands zur Zivilisation.

Auch am aggressiven Forechecking mangelt es. Beim Blick hinter die Kulissen der Sportreporter versäumt es Gensch, Karl-Heinz Rummenigge für seine blasierten Herrenmenschen-Sprüche die Rote Karte zu zeigen. Das Spiel endet heute abend kurz vor Mitternacht mit dem demokratischen Spielstand 0:0. Manfred Riepe