Dinge wie Chucky

Was heißt hier, wir wollten keine Gewalt im Kino sehen? Klar wollen wir!  ■ Von Martin Amis

Im Kino wurde die Gewalt erst um 1966 richtig gewaltsam. Die Eskalation markierten Arthur Penns „Bonnie und Clyde“ (1967) und Sam Peckinpahs „The Wild Bunch“ (1969). Und ich war entzückt von all dieser Gewalt. Sie erschien mir sinnlich, intensiv und (schon damals) aufregend humorvoll; sie wirkte subversiv und counterkulturell. Außerdem bemerkte ich eine plötzliche Blüte von Sex und Flüchen. Die Zukunft erschien heiter.

Davor war Gewalt nicht gewaltsam. Die Leute reden, häufig mißbilligend, von der Art, wie Gewalt im Film „stilisiert“ werde. Aber die alte Gewalt war genauso stilisiert; sie trug lediglich die sanften Handschuhe weitaus milderer Konventionen. Wenige von uns können bezeugen, welcher Stil eher dem Leben entspricht: die cartoonartige Unverwundbarkeit der alten Gewalt oder das cartoonartige Blutvergießen der neuen. Wir stellen uns vor, die Realität liege irgendwo in der Mitte – daß sie weniger dramatisch ist, weniger an Ballett erinnert und vor allem schneller abläuft.

Im Leben dauert zum Beispiel der durchschnittliche Faustkampf etwa eine Sekunde und besteht aus einem Schlag. Der Verlierer trägt eine gebrochene Nase davon, der Sieger gebrochene Knöchel, und beide trollen sich in die Notaufnahme. Der große Stallone stellt sich in die Schlange bei den Gehirnerschütterungen, und Chuck Norris wühlt in seinem Erste-Hilfe-Kasten.

Meinen ersten massiven Eindruck von irdischer Sterblichkeit vermittelte mir nicht der Tod eines Verwandten oder eines Haustiers, sondern Richard Widmarks schriller Todesschrei.

Diese Szenen wirken heute zahm, teils weil sie wirklich zahm sind (nicht dramatisch, sondern technisch zahm), aber auch, weil man sich inzwischen durch ein dreißigjähriges Gemetzel gegähnt und geblinzelt hat.

Bullitt- Standards

Im wirklichen Leben ist die Immunisierung interessanterweise eben die Eigenschaft, die den Gewalttätigen Macht verleiht. In den Augenblicken vor der Gewaltanwendung treten die Nichtgewaltsamen in eine Welt voll unbekannter Reaktionen. Die Gewalttätigen wissen das. Im Grunde zwingen sie die anderen auf ihr eigenes Gelände. Die Gewalt auf der Leinwand richtet sich oft nach der Technologie. Es gab in „Bullitt“ eine Szene, die einen neuen Standard begründete: die Erschießung des Kronzeugen. Plötzlich wird die Tür des schäbigen Hotelzimmers aufgetreten; der wachehaltende Polizist erhält einen Schuß in den Oberschenkel; die Kamera schwenkt hinüber zu dem schwarzhaarigen Mafioso, der mit erhobenen Händen zurückweicht und sich auf das niedrige Bett kauert. Der Revolverschuß reißt ihn von den Füßen, wirbelt ihn durch die Luft und schmettert ihn mit dem Rücken in einem Blutnebel gegen die Wand. Nun, nach 1968 gab es keine Kratzer in dieser Größenordnung mehr, und auch keine Fleischwunden.

Mit den elektronisch gezündeten plasmagefüllten Beuteln, den Schlinger-Kabeln und Sprung- Harnischen und so weiter wirkte der Tod durch eine Schrotflinte nicht mehr so, als könne man sich davon ohne große Beschwer erholen.

In Kriegsfilmen wird die Eskalation der Gewalt im allgemeinen kaum in Frage gestellt. Selbst die Zimperlichen akzeptieren, daß der natürliche Hintergrund aus einer mechanisierten Herzlosigkeit besteht – vielleicht der zivilistische Gehorsam gegenüber dem kriegerischen Axiom „Was haben Sie denn erwartet? Dies ist Krieg.“ Von den Leiden und Schrecken des Krieges haben wir immer mehr kennengelernt, aber die Leiden und Schrecken zum Beispiel eines Bankraubes, des Drogenhandels, von Serienmorden und Kettensägenmassakern scheint man uns immer noch nahebringen zu müssen.

Hollywood vs. America

Die Verrisse von Michael Medveds vielfach angegriffener Monographie „Hollywood gegen Amerika“ ließen nur wenige Punkte unangetastet, darunter die Überzeugung, die Kinobesucher hätten für Gewalt nichts übrig. Amerika kam ins Grübeln, und die daraus erwachsende Kontroverse erreichte schließlich sogar Justizministerin Janet Reno und Bill Clinton. Die Zeit für dieses Buch und diese Stimmung war gekommen: für das Gefühl, Hollywood habe sich vom amerikanischen Alltag allzu weit entfernt, Hollyood – dieser gesichtslose Monolith – liebe alles, was Amerika hasse (Gewalt, Sex, Fluchen, Drogen, Trinken und Rauchen) und hasse alles, was Amerikaner lieben (Religion, Eltern, Heirat und Monogamie, dazu noch das Militär, Polizisten, Geschäftsleute und Amerika). Wäre Dan Quayle ein bißchen heller, klänge er etwa so.

Smaller than life

„In vergangenen Jahren, in den großen Tagen von Gary Cooper und Greta Garbo, Jimmy Stewart und Katharine Hepburn wurde die Filmindustrie heftig kritisiert, weil sie Persönlichkeiten schaffe, die größer seien als das Leben, unmöglich edle und reizvolle Individuen, wie es sie in der wirklichen Welt niemals geben konnte. Entsprechend liefert die Industrie heute Charaktere, die kleiner sind als das Leben – weniger anständig, weniger intelligent und weniger liebenswert als unsere eigenen Freunde und Nachbarn. Auf geradem Wege nach unten, vom Halbgott zur Halbwelt.

Das Kino ist eine junge Kunstform und mußte diese Reise in weniger als hundert Jahren absolvieren. Ich sagte bereits, die Gewalt sei 1966 gewaltsam geworden, weil dies das Jahr war, in dem der Hays- Produktionskodex revidiert wurde, wodurch der Film eher zu einem Medium des Regisseurs wurde. Heute ist klar, daß ihn eben dies vom Massendenken Amerikas entfernte und ihn hinlenkte zu seinen eigenen Stärken – Aktion, Unmittelbarkeit, Affekt. Wir befinden uns inzwischen in einer Welt geschlossener Kreise. Um 1966 sank die Zahl der Kinobesucher um die Hälfte, und so ist es geblieben. Proportional gesehen hat das Autorenkino der Industrie mehr Schaden zugefügt als das heraufkommende Fernsehen.

Gewalt auf Reisen

Amerikaner wollen keine Gewalt. Vielleicht wollen sie auch keine Kunst. Die amerikanische Gewalt, so heißt es, „geht auf Reisen“ und fesselt das Publikum in aller Welt, aber die Amerikaner müssen schließlich in Amerika leben, wo sich all diese Gewalt findet.

In Großbritannien haben in den letzten Monaten zwei der sensationellsten Mordprozesse des Jahrhunderts eine Diskussion über den gleichen Videofilm ausgelöst, nämlich „Childs Play 3“. Der erste Fall war der von James Bulger, einem kleinen Jungen, der von zwei Zehnjährigen zu Tode geprügelt wurde; der zweite der von Suzanne Capper, einem Teenager, der von einer Clique junger Bekannter entführt, ausgiebig gefoltert und schließlich lebendig verbrannt wurde. „Childs Play 3“ erschien daher häufig in den Nachrichten und war somit sehr begehrt. Publizitätsbewußte Videotheken-Manager haben es halbrituell ebenfalls verbrannt. Als meine beiden Kinder (sieben und neun Jahre alt) „Childs Play 3“ in seiner Verpackung sahen, hoch oben auf einem Regal, warfen sie ihm ebenso sehnsüchtige wie scheue Blicke zu. Auf ihrem Schulhof galt „Childs Play 3“ als mächtig, giftig, tückisch – wie Angels dust: eine Fahrkarte in den Wahnsinn. Also ließ ich mich pflichtgemäß eines Nachmittags nieder und schaute mir einen kleinen Routine-Horrorfilm über eine Puppe namens Chucky an, die lebendig wird und Menschen umbringt. Die dadurch ausgelöste Atmosphäre des Schreckens läßt sich auf Freuds Definition des Unheimlichen zurückführen: Unsicherheit darüber, in welchem Maß etwas lebt oder nicht. Während des Abspanns verspürte ich weder einen Anreiz noch einen Drang, hinauszugehen und jemanden umzubringen. Und ich wußte auch warum. Ich kann mich dessen nicht rühmen, aber in meinem Kopf geht zuviel vor, als daß sich Chucky darin breit machen könnte. Chucky könnte in mir wahrscheinlich höchstens einen Appetit auf mehr Chucky auslösen, oder auf mehr Dinge wie Chucky.

Der Mörder in dir

Wir müssen uns ein Gehirn vorstellen, das bei der Begegnung mit Chucky bereits voller Chuckies und anderen Dingen wie Chucky steckt. Und Chucky wird, selbst wenn man Psychopathologie, Dummheit, moralische Deformation, Träume von Allmacht und Sadismus und so weiter hineinmischt, lediglich den Stil der nachfolgenden Scheußlichkeiten beeinflussen. Mörder müssen etwas haben, das sie verfolgt: sie brauchen ihr internes Pandämonium. Vor hundert Jahren wäre es der Teufel gewesen. Heute ist es Chucky. Als die Killer Suzanne Capper folterten, sangen sie die Erkennungsmelodie: „Ich bin Chucky. Spielst du mit?“ Das ist Chucky's Way: der wertlose Scherz, die verächtliche Prahlerei. Hier war ein Geist, der vieles wie Chucky gesehen hatte, und nicht viel mehr vor sich hatte als Dinge wie Chucky. Vielleicht kannte das Kind auch die Bedeutung des Ernstfalls nicht. Und so war es nur allzusehr zum Spielen bereit.

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning