Wer regiert Rußland? Die Mafia!

Am Wochenende veröffentlichte die russische Automobilindustrie einen dramatischen Aufruf, gestern stellte Präsident Boris Jelzin sein Anti-Mafia-Programm vor. Der Kampf gegen den Staat im Staate hat endlich begonnen.  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Durchschnittlich jeden zweiten Tag explodierte in diesem Jahr in Moskau eine Bombe. Das Ziel der meisten dieser Anschläge waren Geschäftsleute oder Bankiers, die Schutzgeldforderungen nicht nachkommen konnten oder wollten. Die Leitung des Automobil- Export-Konzerns Awtowas hat sich in diesen Tagen nach einem Anschlag auf ihren Generaldirektor mit einer eigenen Initiative zur Verbrechensbekämpfung an die russische Öffentlichkeit gewandt. Dieser Schritt durchbricht die Routine des russischen Alltags, in dem auch bescheidene Existenzen bei der Verfolgung ihrer persönlichen und berufichen Ziele den Interessen der Mafia Rechnung tragen.

Die Mafia und die russischen BürgerInnnen

Da verschnauft meine Milchfrau Ljudmila doch eines Sonntagabends mit einem Sack Kartoffeln von der Datscha auf der Bank vor ihrer Mietskasernentür und schwatzt mit ähnlich beladenen Mitbewohnerinnen. Plötzlich führen ein paar Typen vom benachbarten Markt ein um Hilfe schreiendes Mädchen herbei. „Geht rein, wir haben hier eine Rechnung zu begleichen!“ fordert einer von ihnen die Hausfrauen auf. Die folgen. Keine kommt auf die Idee, dem Mädchen zu helfen – oder etwa gar das Recht zu verteidigen, auf der eigenen Schwelle zu sitzen. Am nächsten Tag findet man die junge Frau in einem benachbarten Gebüsch. Sie redet nicht mehr. Der Regenschirm, den man ihr in den After getrieben hat, tritt am Brustbein wieder aus. Und nun ein freundlicheres Beispiel: einem Tierarzt hat man aus der Praxis einen wertvollen Rassehund gestohlen. „Die Mafia kann es nicht gewesen sein“, sagt er. „Ich hab' dem Obermafioso unseres Bezirks einen Neufundländer geschenkt. Der liebt sein Tier und hilft mir bei der Suche nach den Dieben.“

Nicht die Diebstähle sind es, sondern die Gewaltverbrechen, deren Anzahl in dem verarmenden Land in die Höhe schnellt. Seit 1989 bis 1993 hat sich die Zahl der Morde im Lande von 13.543 auf 29.213 fast verdoppelt, ebenso die der schweren Körperverletzungen von 36.872 auf 66.902. „Unsere organisierte Kriminalität hat an Grausamkeit die italienische Mafia längst übertroffen“, verkündete im März der russische Innenminister Jerin. Und als im selben Monat ein Meinungsforschungsinstitut die Einwohner verschiedener russischer Städte fragte: „Wer regiert Rußland?“, antwortete der größte Anteil, nämlich 23 Prozent von ihnen: die Mafia.

Die Mafia? Das ist die Partei!

Doch was bedeutet in eurasischen Breiten das relativ neue und so unrussische Wort „Mafia“? Schon 1987, als ich auf dem Höhepunkt der Perestroika nach Rußland zurückkehrte, sprachen die Moskauer Taxifahrer viel und gern von der „Mafia“. „Die Mafia – das ist die Partei“, erklärten sie, wenn ich nachfragte. Eine im Mai veröffentlichte Studie der Akademie der Wissenschaften beweist: Im Regierungsapparat des Landes haben nur zehn Prozent der Beamten ihren Job zu Jelzins Zeiten erhalten. Die Führung haben heute in der Regel die ehemaligen „Zweiten“, die Stellvertreter der Parteiführer, inne. Was die Busineßelite anbetrifft, so stammen 37 Prozent aus der früheren Wirtschaftsstruktur und – 40 Prozent aus dem Apparat der früheren Jugendorganisation der KPdSU, dem Komsomol.

Die neuen Kaufleute nutzen kräftig die Erfahrung der alten Nomenklatura. Die meisten dieser Profis dürften in den siebziger Jahren zu Amt und Reichtum gelangt sein, während der Blütezeit der sowjetischen Schattenwirtschaft, in einem Jahrzehnt, in dem Experten auch die Geburtsstunde der heutigen Mafia ansetzen. Ohne den „Tolkatsch“, den Besorger, der unterderhand Tauschgeschäfte betrieb und Lizenzen organisierte, lief in dieser Wirtschaft kein Betrieb mehr. Der schwarze Markt bildete das lebendige Kreislaufsystem des toten Scheinsozialismus. Um sich am Tausch beteiligen zu können, das heißt um seine Dienstobliegenheiten gut zu erfüllen, mußte der sowjetische Apparatschik sich die nötigen Mittel besorgen, also die Hand aufhalten.

Wenn das Defizit die Brutbedingung Nummer eins für jede Mafia ist – man denke an die Folgen des künstlichen Alkoholdefizits während der Prohibitionsepoche in den USA –, so wurde die russische Mafia in einer traumhaften Kinderstube geboren: denn hier war alles Defizit. Wegen dieser Kinderstube begnügt sich die moderne russische Mafia auch keineswegs damit, Prostituierte auszubeuten, den Rauschgifthandel zu organisieren oder Geld zu waschen, sondern sie organisiert bei Bedarf auch Auslandspässe, ändert Gerichtsurteile ab und besorgt die gewünschten polizeilichen Protokolle nach Verkehrsunfällen.

Die unglücklichen Kämpfer gegen die Mafia

Seit 20 Jahren ist kein einziger Chef der Moskauer Kriminalpolizei in Ehren entlassen worden. Die Milizionäre sind die Lieblingsläufer im politischen Schachspiel der konkurrierenden Eliten des Landes. Dabei schätzen Experten, daß immerhin ein Drittel der Diener des Gesetzes in Rußland nicht korrupt sind, sich mit ihren mickrigen Gehältern begnügen und ernsthaft nach Verbrechern suchen. Ihre Chancen dabei stehen schlecht. Anläßlich seiner kürzlichen Entlassung kommentierte der Chef der Moskauer Kriminalpolizei, Jurij Fedossejew: „In Amerika kann ein Polizist sagen: Auf meiner Seite stehen das Gesetz und der Präsident. Kann ein Milizionär bei uns so etwas denken?“

Ein anderer Mitarbeiter beklagte sich gegenüber der Moskauer Stadtzeitung Kuranty über den rechtsfreien Raum, in dem die russische Polizei heute operiert: „Wo bleibt der neue Kriminalkodex? Er existiert einfach nicht. Da gibt es so einen Paragraphen über kommerzielle Glücksspiele, aber der ist einfach nicht anwendbar. Die Rechtslage auf dem Gebiet der Devisenoperationen versteht heute keiner mehr. Und was es eigentlich mit der Pornographie auf sich hat, ist völlig ungeklärt. Die Arbeit eines Untersuchungsrichters wird heute in keiner Weise gesetzgeberisch abgesichert. Dabei setzen all die üblichen Alltagsprobleme den Leuten von der Kriminalpolizei schließlich auch zu. Und da fangen sie eben an, sich nach der Vergangenheit zurückzusehnen ... Nach meinen Schätzungen träumen etwa 70 Prozent aller Mitarbeiter der Miliz von einer Rückkehr zur alten Ordnung.“

Daß die ersehnten Gesetze bisher in der Schublade blieben, dafür sorgte eine Duma, in der vermutlich 15 Prozent der Abgeordneten bereits vom organisierten Verbrechen gekauft sind. Dies schätzt der ehemalige Untersuchungsrichter und heutige „Berater für Mafia- Kontakte“, Andrej Wolobujew. Er hat auch ausgerechnet, daß der Gesamthaushalt der russischen Mafia vermutlich dem heutigen Staatsbudget von umgerechnet rund 180 Milliarden Mark gleichkommt. „Und im übrigen“, sagte mir Wolobujew im Gespräch: „Der beste Schutz für jede Mafia ist nicht die Schwäche der Polizei, sondern die Stärke ihrer Verbindungen nach oben.“ Zweifel daran, daß das gestern von der Jelzin-Administration vorgelegte und 4,3 Milliarden Mark umfassende Anti-Mafia-Programm greifen wird, gibt es also genug. Kritik an dem jetzt vorgestellten Programm kommt aber auch von Menschenrechtsorganisationen. Sie befürchten, daß durch die Erweiterung der Rechte der Sicherheitskräfte, durch die teilweise Aufhebung des Bank- und Geschäftsgeheimnisses nicht die Mafia bekämpft, sondern der Geheimdienst FSK, die Nachfolgeorganisation des KGB, gestärkt werden wird.

Ein Fall präsidialer Sportmafiaförderung

Am Ende seiner Karriere war er so bedeutend, daß man ihn einfach nicht verfehlen konnte: Otari Kwantrischwili starb am 8. April beim Verlassen der Sauna durch die Kugel eines Heckenschützen. Kein Mann illustriert so wie er den neurussischen Filz von Mafia und öffentlichem Leben.

Als Präsident der „Lew-Jaschim-Stiftung“ für hilfsbedürftige Sportler und ihre Familen war der ehemalige Ringer, Berufsspieler und spätere Kasinobaron im Lande populär gewesen. Als Trainer im Kraftsport hatte er sich besonders der Zukunftssicherung seiner Schützlinge angenommen und Ringer, Boxer und Gewichtheber mit lukrativen kommerziellen Jobs versorgt. Im Zug der Trauernden, die über eine Stunde lang am Sarg auf dem Wagankowo-Friedhof vorbeidefilierten, gingen viele bekannte Sportler und die wichtigsten Mitglieder des staatlichen Sportkomitees, etwa hundert „Autoritäten“ der kriminellen Welt, berühmte Sänger und Schauspieler. Kwantrischwili war eben auch eine Größe hinter den Kulissen des Showbusineß gewesen. Im letzten Winter hatte Kwantrischwili sogar seine eigene politische Partei, die „Sportler Rußlands“, gegründet.

Wenige Tage vor Kwantrischwilis Ableben veröffentlichte und kommentierte die Nowaja Jeschednjewnaja Gaseta (Neue Tageszeitung) das Faksimile eines bisher nicht veröffentlichten Jelzin-Ukasses aus dem Juni 1993 „zur dienstlichen Verwendung“. Der sieht die Gründung eines „Nationalen Sportzentrums“ zwecks Ausbildung hochqualifizierter Sportler sowie der Durchführung internationaler Wettbewerbe vor, und zwar durch die „Nationale Sportstiftung Rußlands“ (deren Gründungsmitglied die „Jaschin- Stiftung“ unter dem Vorsitz von Otari Kwantrischwili war). Eine „Anlage“ sieht zusätzlich vor, daß die Regierung dem nationalen Sport in Gestalt bestimmter Firmen zollfreie Ausfuhrquoten zuweist, und zwar: 40.000 Tonnen Zement, eine Million Tonnen Erz und Schlacken, 50.000 Tonnen Heizöl – 100.000 Tonnen Aluminium, 500 Tonnen Titan.

Den russischen Staat werden diese Sonderlizenzen über zwei Milliarden Mark kosten. Der geheimgehaltene Ukas wurde nicht der Duma vorgelegt. Die präsidialen Strukturen kommentierten seine Veröffentlichung nicht. „Die organisierte Kriminalität beschränkt sich bereits nicht mehr auf die Sphäre der gewöhnlichen Verbrechen. Sie versucht beharrlich die Arena der großen Politik zu betreten, Zugang zur Regierung des Staates zu erhalten. Das ist Ihr Problem.“ Mit diesem Satz wandte sich Präsident Jelzin im Mai auf einer internen Versammlung an Mitarbeiter des Föderalen Gegenspionagedienstes. Es scheint, daß dies auch sein Problem ist.

Die Überlegungen eines „Mafiaberaters“

Auch ein äußerst vorsichtig gehaltener Mafiabericht des russischen Innenministers stellt fest: Die Korruption in den staatlichen Strukturen nimmt immer weiter zu. Im vorigen Jahr deckten die Staatssicherheitsorgane viereinhalbtausend Fälle von Schmiergeldannahmen auf, ein Drittel mehr als 1992. Doch die offengelegten Fälle bilden lediglich die Spitze des Eisberges. Nur zwei Drittel der Überführten wurden ihres Amtes enthoben oder gerichtlich zur Verantwortung gezogen. „Wollen Sie wissen, was der Unterschied zwischen der Mafia bei uns und bei euch ist?“ fragt mich der „Mafiaberater“ Wolobujew: „Auch bei euch darf man Bestechungsgelder nehmen, aber wenn man sich erwischen läßt, ist es aus mit der Karriere. Bei uns dagegen: Welche Beschuldigungen man auch immer gegen unsere Elite vorbringen mag, sie prallen von ihr ab wie eine Handvoll gegen eine Wand geworfene Erbsen.“

Der schwedische Ökonomieprofessor und einstige Jelzin-Berater Anders Aslund äußerte kürzlich die Befürchtung, daß Rußland sich heute auf dem besten Wege zu einem nur mäßig demokratischen Gebilde befinde, zu einem sogenannten „korporativen Staat“, in dem – wie in einer südamerikanischen Bananenrepublik – hundert große Konzerne über Leben und Tod der Bürger entscheiden. Die neuen „Herren“ des Landes brauchen nicht mehr das demokratische Deckmäntelchen, das sie sich noch nach dem Augustputsch 1991 umhängten.

Für diese Leute ist es nicht günstig, daß es in der Gesellschaft zu einem weitgehend funktionierenden Zusammenspiel verschiedenster Marktkräfte gekommen ist. Für sie ist es nötig, daß es viel zu erlauben und wenig zu verteilen gibt. Ljew Timofejew, einer der brillantesten Analytiker des alten schwarzen Marktes und der neuen russischen Mafia, forderte kürzlich in einem Artikel in der Iswestija die demokratischen Politiker auf, bei ihren Plänen für das Land die „systemstiftende“ Rolle der UdSSR- Schattenwirtschaft für das Rußland der Perestroika und der Postperestroika anzuerkennen. Timofejews Demokratisierungsrezept lautet: den Staatsapparat als idealen Mafia-Nährboden möglichst reduzieren, dabei aber das Schatteneigentum maximal in den Prozeß der gesellschaftlich kontrollierten Privatisierung einbeziehen.

Die soziale Basis für eine solche Lösung erblickt Timofejew in den Direktoren vieler Unternehmen, die nicht direkt an der staatlichen Futterkrippe sitzen und deren Tätigkeitsbereich nicht mit dem Beamtenapparat verwachsen ist. Sie haben vor allem drei Interessen: erstens vernünftige Steuern, zweitens Befreiung von Schutzgeldern, drittens eine Korrektur der staatlichen Privatisierung, weil sie ihre Unternehmen selbst kaufen wollen. Der dramatische Schritt des Konzerns Awtowas mit seinem öffentlichen Aufruf in den letzten Tagen spricht für dieses Modell.