Soccer-Horror-Picture-Show

■ Ab heute rollt der Fußball auch in Berlin: Alles über die Orte, wo Mann - und Frau - auch ohne "Deutschland, Deutschland"-Rufe den Ball laufen sehen kann

Ab heute beginnt für Frauen – und ein paar ganz wenige Männer – eine wunderbare Zeit. Ihre Liebsten verlassen für vier Wochen die Wohnung, um sich bei alleinlebenden Kumpels zum Fußballgucken zu versammeln. Es ist wieder mal die Zeit der WM-Schlachten vor dem flimmernden Kasten mit Bierchen, Käsehäppchen und Schinkenbroten, taumelnden Ekstasen und totaler Niedergeschlagenheit. In die Berichte der Korrespondentenriege darf dann mit tierischem Gebrüll mannschaftlich geschlossen hineingegrätscht werden. Klar, daß über die körperliche Fitness getunnelter Torhüter debattiert werden wird, angesichts der liebeshungrigen Bianca Illgner, die nicht müde wird zu nerven: „Ich will bei meinem Bodo schlafen.“ Tänzelnde Brasilianer, verschossene Elfer und Fehlentscheidungen des Schwarzkittels harkt dagegen die TV-Truppe locker vom Tisch. Aber wehe, wenn Bundes-Berti schon in Chicago sich vor der Soccer-Rocker-Runde naß macht. Dann droht wieder „Schaun' mer mal“.

Der Unisex im gestärkten Mannengeist bei Zigarettenqualm, in Schweißluft und mit Alkoholfahnen vor der Glotze ist out, kann doch die mediale Kickerwelt durchbrochen werden. In der größten Stadt, wo der miserabelste Profifußball gespielt wird, läßt sich die Fußballweltmeisterschaft in den USA nicht nur in Stammkneipen mit ausreichend flüssigem Nachschub, sondern ebenso in Etablissements mit multikulturellem Anspruch erleben: „Klar sind wir Fußballfans. Aber es geht nicht um Deutschland, sonden wir hoffen, daß Kamerun gewinnt“, sagt Dietmar Miehlke vom Ratibor Theater. „Wir wollen Fernsehübertragungen zeigen, ohne das dumpfe ,Deutschland, Deutschland‘-Gebrülle.“ Das Ratibor Theater hofft das zu verhindern, indem zwischen den Spielen Kabarett-Aufführungen den Adrenalinspiegel absenken sollen. Hyperthonikern sei beispielsweise geraten, sich das Spiel Bundesrepublik Deutschland gegen Bolivien im „Argument Buchladen“ in Kreuzberg anzugucken. Die Sessions im Schatten von klassischer Literatur und politischer Exegese werden von dem Sportsoziologen Thomas Alkemeyer begleitet, der Ausbrüche des sogenannten „Völler-Syndroms“ und patriotische Anfälle sofort mit „Analysen“ wieder in die Schranken weist. Die Großleinwand im Theatersaal der UFA- Fabrik ist nur noch schöne WM- Begleiterscheinung. Zu den Spielen, erzählt Martin, „haben wir das Programm so abgestimmt, daß es zu den Mannschaften paßt“. Vor dem Nigeria-Spiel etwa sei Afro- Percussion vorgesehen. Bei dem „Knüller Brasilien gegen Kamerun stimmt eine brasilianische Gruppe mit Samba ein“. In den WM-Pausen lockere ein Varieté die Muskeln. Außerdem bietet die UFA- Fabrik mit einem Fußballturnier für Kinder und „Herren“ (Martin) die Chance, die gerade erlebten Tricks und Beinscheren selbst in Szene zu setzen.

Der Soccer-Horror der „BRD“ und alle anderen 52 Spiele geht auf dem Sportgelände Marzahn „mit Quiz und Musike“ über die Mattscheiben. Die kolumbianischen Fußballästheten sammeln sich im „El Barrio“. Das Dou Infernale Franco Baresi und Maldini bricht die Waden im Zelt der „Osteria No 1“ unter den Geschlürfe des zu teuren Chianti. Den proletarisch-sizilianischen Straßenfußballercharme findet man dagegen in den kleineren Pizzerien um den Schöneberger Hedwigplatz. Dort hat beispielsweise im ehemaligen „Totubella“ der Koch bei der letzten WM 1990 in Italien den Hefeteig heulend vor Wut auf die Mattscheibe geschleudert, weil die Azzurris gegen Argentinien verloren.

Weniger intim geht die Fußballgeschichte im „Tränenpalast“ über die Bühne, wo in halliger Atmosphäre gegen die Dribblings des Schwaben Guido Buchwald angebrüllt werden kann. Die Schußschwäche unseres Kopfballspezialisten Riedle oder die Schwalben von IM Ulf Kirsten können im SO 36 mit autonomer Haßliebe beklatscht werden. Das gesteigerte Programm – nach dem deutschen Ausscheiden im Viertelfinale gegen Marokko – präsentiert das Kino Eiszeit. Die Klinsmann-Fans, räumt Andreas ein, wandern ab dem Halbfinale vom Kinosaal in die Freiluftarena am Künstlerhaus Bethanien. Open air kann zu afrikanischen Klängen unter der Schirmherrschaft von Kino Eiszeit, Kunstamt Kreuzberg und Türkiyemspor getanzt werden. Denn für Andreas steht die Endspielpaarung fest: Kamerun gegen Nigeria.

Die Spielzeiten und Begleitprogramme sind in jedem Timetable oder Veranstaltungsmagazin zu finden. Eintrittpreise oder Saisonkarten dortselbst telefonisch erfragen. Rolf Lautenschläger