Material für das neue Regime

■ Der polnische Sozialwissenschaftler Aleksandr Smolar über eine gesellschaftliche Situation, die auch Marcel-Ranicki dazu bewogen haben könnte, Mitglied des polnischen Geheimdienstes zu werden

Die Juden spielten von Anfang an eine wichtige Rolle in der kommunistischen Bewegung. Vor der Enge der jüdischen Gemeinschaft und der bedrohlichen Feindseligkeit der Außenwelt flohen sie in die Utopie der Brüderlichkeit der Völker. Als sie das jüdische Ghetto verließen, brachen sie leichter als andere mit dem Glauben, den Traditionen und der nationalen Identität. In der Bewegung sind sie als Entwurzelte, die ihr Jüdischsein ablehnen, willkommen. So wie die bolschewistische Revolution sich mit dem Kostüm der französischen schmückte, so war auch die Politik der Bolschewiki gegenüber den Juden eine Karikatur des Programms, das in der Französischen Revolution von Clermont-Tonnère 1791 verkündet wurde: „Den Juden als Nation nichts, den Juden als Individuen alles.“

Nach dem Krieg wurde das Verhältnis zwischen dem Regime und den Juden in Polen von der kommunistischen Tradition, der Politik des Kreml, der Entstehung des Staates Israel und dem Erbe der polnisch-jüdischen Beziehung bestimmt.

Bereits während des Krieges findet in der Sowjetunion unter den alten Kommunisten – und nicht nur unter ihnen – eine Auswahl künftiger Führungskader für Polen statt. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Polen absorbiert der expandierende Machtapparat alle, die bereit sind, mit dem neuen Regime zusammenzuarbeiten. Insbesondere die Akademiker, die stark dezimiert waren. Unter ihnen sind zwar viele bereit, sich am Wiederaufbau des Landes, der Wirtschaft und des Schulwesens zu beteiligen, lehnen aber eine Mitwirkung in der Regierung unter dem Führungsanspruch der Partei ab. Auch der Machtapparat hegt tiefes Mißtrauen gegenüber gesellschaftlichen Gruppen, die stark in patriotischen Traditionen verwurzelt sind. Bei den Juden sieht das anders aus. Sie sind der Sowjetunion dankbar, weil sie ihnen das Leben gerettet hat, sie sind sozial isoliert, kulturell entwurzelt, sie spüren die Ablehnung ihrer Umgebung und träumen von Gleichheit und Brüderlichkeit, während sie zugleich der „Reaktion“ gerne eine Lektion erteilen würden. Sie waren als Material für das neue Regime hervorragend geeignet, von den überzeugten alten Kommunisten, unter denen der Prozentsatz der Juden sehr hoch war, ganz zu schweigen.

Die Minderheit der Überlebenden, die sich entscheidet, in Polen zu bleiben und mit der jüdischen Gemeinschaft und Kultur zu brechen, wird von dem neuen Machtapparat aufgesogen. Sie bevölkern vor allem jene Bereiche, in denen Vertrauenswürdigkeit und Gefügigkeit besonders gefragt sind: den Sicherheitsapparat, das Militär, den Parteiapparat, die Propaganda und die Außenpolitik.

Gleichzeitig tut man alles, um die Juden möglichst unsichtbar zu machen. Nichtjüdisches Aussehen und gute polnische Sprachkenntnisse spielten bei der Besetzung von Posten eine wichtige Rolle. Man verlangt, daß jüdische Namen polonisiert werden und häufig auch, daß die Geburtsurkunden selbst längst verstorbener Familienmitglieder geändert werden. Eine erniedrigende Prozedur. Die Bevölkerung sieht darin ausschließlich den Versuch, die Tatsache der Fremdherrschaft zu verschleiern. Dabei handelte es sich keineswegs um kommunistische „Marranen“, die sich äußerlich polonisieren wollten, um im Verborgenen das Judentum weiter zu kultivieren. Im Gegenteil – das Polentum wurde in diesen Kreisen rückhaltlos akzeptiert. Es herrschte jedoch eine etwas verquere, durch den Filter des kommunistischen Dogmas geprägte Vorstellung des Polentums. Und es ist keineswegs erwiesen, daß diese Leute unter sozial weniger privilegierten Bedingungen das Risiko der Assimilation mit der gleichen Begeisterung eingegangen wären. Obwohl Milosz sicherlich recht hat, wenn er in seinem Buch Die Eroberung der Macht einen seiner Helden sagen läßt: „Nur wenn sie aufhören, Juden zu sein, können sie überleben. Und diejenigen, die Juden bleiben, werden emigrieren.“ Zweifelsohne wurden die Juden anfangs von dem neuen Regime begünstigt. Diese Politik war jedoch Ausdruck von Pragmatismus und nicht Sympathie. Man setzte Juden in verantwortliche Positionen ein, nicht weil sie Juden waren, sondern weil man sie für treu hielt. Sehr bald kam es jedoch zur „Bereinigung der Kader“, was bedeutete, daß die Juden durch eiligst geschulte polnische Kader ersetzt wurden.

Die Tendenz, Juden aus verantwortungsvollen Stellungen wieder zu entfernen, sobald sich das neue Regime stabilisert und seine soziale Basis verbreitet hat, wird auch durch die antijüdische Politik Moskaus verstärkt. Im Zuge des Kalten Krieges fiel der Eiserne Vorhang herab. Die Juden waren jetzt aufgrund ihrer Traditionen, ihrer Kultur und ihrer internationalen Verbindungen verdächtig. Die Entstehung des Staates Israel, der von Moskau zunächst im Rahmen antibritischer Diversion unterstützt wurde, hat die Lage der Juden in den Ländern des Sowjetblocks verschlechtert. Das bedrohliche Wort vom „Kosmopolitismus“ tauchte auf. Die antisemitischen Töne sind im Rajk-Prozeß 1949 in Ungarn schon deutlich zu hören und spielen eine zentrale Rolle beim Slansky-Prozeß in der Tschechoslowakei 1952. Treue Stalinisten werden wegen Verrats angeklagt. Immer häufiger wird Verrat mit jüdischer Abstammung identifiziert. Die antijüdischen Maßnahmen treffen nicht nur Leute aus dem Machtapparat. 1952 wird in der Sowjetunion die gesamte Spitze der jüdischen Kultur liquidiert: nach dem Holocaust nun die vollständige Liquidierung der Elite der jüdischen Kultur überhaupt. Es ist bekannt, daß Stalins Tod die Vorbereitung zu einer großen antijüdischen „Säuberung“ im Ostblock unterbrach.

Das Jahr 1956 bedeutet unter anderem eine zunehmende Verankerung des Regimes in der Gesellschaft. Die Rückkehr Gomulkas an die Macht war von Euphorie und patriotischer Mobilisierung begleitet. Diejenigen, die für die Realisierung stalinistischer Politik standen, wurden entlassen – unter ihnen Tausende von Juden. Der Machtapparat wurde sowohl ideologisch wie personell polonisiert.