Heißes Eisen Beat

Desperately seeking Klassenstandpunkt: Michael Rauhuts Standardwerk zum DDR-Rock und seinen unendlichen Metamorphosen  ■ Von Anke Westphal

Wer sich heute in die Keller des DDR-Rock bemüht, findet vor allem eines: Berge von sperrig formulierten und rigiden Anordnungen, Anweisungen, Direktiven, Lehrplänen und Erlassen. Den schon sprichwörtlichen Aktenberg also, den dieser Staat seinen Bürgern so großzügig angedeihen ließ.

Durchgefressen hat sich Michael Rauhut, Musikwissenschaftler an der Humboldt-Uni, und ein klein wenig scheint der Gegenstand schon auf die Schreibweise abgefärbt zu haben. „Die als ,Eckensteher‘ oder ,Halbstarke‘ apostrophierten Jugendlichen hatten sich staatlich sanktionierten Kultur- und Sozialisierungsmustern entzogen und eine als kapitalistisch-feindlich und dekadent verurteilte Musik zu ihrem Symbol erhoben“, formuliert Rauhut in seiner so profunden wie spröden Studie über den DDR-Rock zwischen 1964 und 1972.

Rockgeschichte Ost, so die Generalhypothese, läßt sich als Geschichte der mählichen Kapitulation staatspolitischer Intentionen vor einem Massenbedürfnis lesen. Die „Beatmusik“, die vergöttert und verdammt wurde, zwang nicht nur Macht in ihre Grenzen, sie veränderte auch deren Strategie – vom Verbot hin zur Integration.

Doch bis dahin vergingen Jahre. Wo Gesinnung linear aus dem Habitus abgeleitet wurde, war zunächst kein Wohlwollen zu erwarten für lange Haare, „Nietenhosen“ und „unnatürlich lange Wimpern“. Die Angst vor dem Strukturverlust durch „unkontrolliertes Zucken“ und „verrutschte Krawatten“ machte, durchaus ähnlich wie in der Bundesrepublik, mobil gegen den „Massenwahnsinn schürende Heulbojen“. Der Gegenzauber der Kulturoberen: „humanistische Kunst“ – „belehrend, fröhlich und unterhaltsam“.

Doch Beatlemania und „Twangy Sound“ konnten selbst an der DDR nicht ohne jede Spur vorübergehen. Zwischen 61 und 64 kam es zu einem Boom von Gitarrenbands, The Butlers oder Diana- Show kopierten die Songoriginale aus dem Westen und bastelten – Stichwort Mangelwirtschaft – am bescheidenen Equipment. Die Mauer allerdings stand, und das hieß: „Elementen ohne festen Klassenstandpunkt“ wurden von FDJ-Hardlinern die westlich ausgerichteten Antennen vom Dach gerissen. Ergebnis: die FDJ- Mitgliederzahlen gingen zwischen 1961 und 1963 um sieben Prozent zurück und betrugen 1963 „nur“ noch 42,7 Prozent.

Daß das nun auch wieder nicht im Sinne der Erfinder sein konnte, ist eine der spannenderen Seiten von Rauhuts Materialmassen. Unwillig wurde Kurs auf institutionelles und praktisches Umdenken genommen. Das Deutschlandtreffen von 1964 sorgte für eine gewisse Öffnung, und in einem Kommuniqué des Politbüros des ZK der SED vom September 1963, das „Der Jugend vertrauen und Verantwortung“ betitelt war, tönte es anbiedernd: „Wir sind für zündende Rhythmen ...“ 1965 wurde dann von der FDJ endlich ein Programm der „Gitarrenbewegung“ angenommen, das „heiße Eisen Beat“ angepackt. – Zu heiß, wie man schon wenig später wieder befand. „Anordnungen über die Ausübung von Tanz- und Unterhaltungsmusik“, Zwangsquotierungen (60 zu 40 Prozent) im Spielen von Titeln Ost und West gesellten sich zu tragikomischen Loyalitätsbekundungen wie der der Mitarbeiter von Radio DT64: „Jemand hat einmal gesagt, wer im Kopf klar ist, darf auch mit dem Hintern wackeln.“ Aber eben nicht zu allem. Die Rolling Stones lösten nach offizieller Meinung mit ihren „klanglichen Reizungen bei haltungsschwachen Jugendlichen Zügellosigkeit aus“. Zu den Hintertreppenwitzen der Geschichte gehört, daß der Stonestitel „The Last Time“ in entschärfter Version als „Das kann doch nicht wahr sein“ auf den antikapitalistischen Tanzboden geschummelt wurde.

Im Februar 1965 erschien dennoch die erste Beat-LP der DDR („Big Beat1“), im April gar eine komplette Lizenz-LP der Beatles – was aber alles nichts daran änderte, daß „Rädelsführer“ des enthemmten Beat-Enthusiasmus verhaftet wurden. Der Beat „stellte das Paradigma vom Vergesellschaftungsideal des Sozialismus, der auch die Persönlichkeit normierte, in Frage“, so Rauhut. Wie wörtlich das zum Teil genommen wurde, zeigt ein Faksimile aus dem FDJ-Kontext: Aufgebrachte Mitschüler griffen zur Schere, um den „Gammlern“ die „ekligen, strähnigen Mähnen“ zu schneiden. Nur von heute aus amüsant die Tatsache, daß englische Gruppennamen eingedeutscht werden mußten: Die „Swinging Guitars“ verwandelten sich in „Schwingende Gitarren“. Und natürlich schlug sich das auch auf die Intimität mit dem Gegenstand nieder: „Jimmy Hendriks [sic!] ist ein an Rauschgift verstorbener westlicher Schlagerstar.“

Jene Aura des Verbotenen, die später im kuriosen Metaphernreichtum vielumdeutelter DDR- Rocktexte fortschwiemelte, setzte sich in der Popkultur durch. Überhaupt entstand eine Art Underground im Overground: Die unerwünschten Klänge überwinterten, clever getarnt, in ebenjenen Substituten, die der Staat zu ihrer Ausmerzung aufbot: Gesellschaftstanz, FDJ-Singebewegung. Qualifizierungsauflagen stillten das Bedürfnis nach dem „heißen Eisen“ nicht, verkunsteten den DDR- Beat jedoch.

Erst nach 1966 entspannte sich die Situation. Freizeit als Träger „höherer Lebensqualität“ erforderte differenziertere Angebote, konfrontative Prämissen wichen einer sozialistischen Glücksphilosophie, die das Subjekt favorisierte. Beat war plötzlich nicht mehr a priori „imperialistisch“, sondern er ähnelte mit seinen Werkzeugen „Produktionsinstrumenten, die ihrer Natur nach weder sozialistisch noch kapitalistisch sind“.

Im Juni 1968 erschien mit „Die Straße“ von Thomas Natschinski und Gruppe die erste Porträt-LP einer DDR-Beatband überhaupt. Unter dem Einfluß westlicher Hippie-Kultur reisten die Fans ihren Bands hinterher und nutzten schon mal Barbiturate in Alkohol als Ersatz für Haschisch. Talentescouts suchten die Bezirke nach neuen Bands ab, die in den Rundfunkstudios produzieren sollten. Der Beat der Basis sah sich mit einem Mal von offiziellen Strukturen liebevoll „umklammert“, so Rauhut treffend.

Nach zehn Jahren Eiertanz zwischen Restriktion und Förderung war die Erkenntnis heraufgedämmert, daß Rock ganz gut vor den eigenen Karren gespannt werden konnte – „eine verdammt kluge Entscheidung“, wie Christian Kunert von der später verbotenen Renft Combo resümierte. Mit den frühen Siebzigern schien die Wende im öffentlichen Beurteilen von Beat/Rock durchgesetzt, dieser unter dem Zauberwort „Bedürfnisbefriedigung“ zugelassen. Ein Alltagsphänomen war, wenn auch argwöhnisch, institutionalisiert worden.

Und where do we go from here? Michael Rauhut hat viel Material zusammengetragen. Doch die Form für die Geschichte des Rückzugs aus dieser Einbahnstraße bleibt noch zu finden. Vielleicht und wahrscheinlich – ein Fragment.

Michael Rauhut, „Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964 bis 1972 – Politik und Alltag“. Basisdruck, broschiert, 342 Seiten, mit Fotos, 28 DM