"Sie haben Tomaten nach uns geworfen"

■ Ein Gespräch mit Manfred Salzgeber über die Anfänge der neueren Schwulenbewegung und das schwule Kino

Manfred Salzgeber, geboren 1943 in Lodsz/Polen, aufgewachsen in Stuttgart, lebt seit 1963 in Berlin. Er war Buchhändler, Schauspieler, Filmkritiker. Er wurde einer der Gründungsväter der deutschen Schwulenbewegung, außerdem Kinobetreiber, Filmverleiher, schließlich langjähriger Chef des „Panorama“ der Berlinale. Seit Jahren sorgt er international unermüdlich dafür, daß wichtige schwule und lesbische Filme einen Vertrieb finden. Seine Edition betreut heute über 200 Filme.

taz: Herr Salzgeber, Sie haben deutsche Fernsehgeschichte gemacht, als erster Mann in der Glotze in Großaufnahme einen Mann geküßt. Wie kam's?

Manfred Salzgeber: Das war in Rosa von Praunheims „Nicht der Homosexuelle ist pervers ...“ – und es gab eine große Aufregung. Dieser Kuß hatte ungeschnitten eine Länge von 4 1/2 Minuten. Die wurde dann auf die immer noch aufdringliche Länge von 45 Sekunden geschnitten. Robert van Ackeren stand hinter der Kamera. Wir drehten am Hauseingang neben dem Kleist-Casino in Schöneberg. Die Leute sahen, daß da gefilmt wurde – und was gefilmt wurde. Sie versuchten sogar, aus Nachbarhäusern Tomaten auf uns zu werfen.

Wie kamen Sie zu dieser Pioniertat?

Rosa habe ich Mitte der Sechziger kennengelernt, als er in der Crellestraße noch 8-Millimeter- Filmchen machte. Damals wurde es möglich, mit der Änderung des Paragraphen 175 endlich einen deutschen Schwulenfilm zu machen. Dem Drang der Zeit folgend sollte der wissenschaftlich werden. Martin Dannecker (Sexualforscher, d. Red.) hat damals 200 dicke Fragebögen an uns geschickt. Alf Boldt, noch ein paar Leute und ich sind damit durch die Vorstädte Berlins gezogen und haben Schwule interviewt. Im Windschatten davon ist der Film entstanden. Damit sind Rosa und wir dann durch die Lande gezogen und überall ist daraufhin eine politische Bewegung entstanden. Dafür lohnte sich ein Coming-out.

Kürzlich habe ich den Film wiedergesehen, das jugendliche Publikum hat sehr oft schallend gelacht. Verletzt einen das?

Nee, nee, wir haben damals auch drüber gelacht. Aufgeregt haben sich damals nur die Tunten und Kerle, die sagten, so sind wir nun mal – und jetzt zerrt ihr uns auch noch so in die Öffentlichkeit!

Was geschah hinterher?

Es gab Leute, die gewarnt haben, Manfred, dich werden sie auf der Straße anpissen. Das Gegenteil ist passiert, die Leute haben gesagt, gut, daß du das gemacht hast. Nur meine Mutter hat sehr schlimm reagiert. Sie hat gesagt, wenn du gestorben wärst, wäre es nicht so schlimm gewesen.

Blieb sie dabei?

Sie hat es einen Monat später nicht gesagt haben wollen. Zur Zärtlichkeit unter Männern möchte ich noch eine Anekdote hinzufügen: Jahre später bei der Uraufführung von Fassbinders „Querelle“ in Venedig, da wartete ich auch darauf, an welcher Stelle es wohl knattern würde. Als Querelle auf dem Flipperautomaten heftig gefickt wird, blieb es ruhig. Aber bei der Liebesszene mit dem Polen – da sind sie ausgerastet. Die Männer sind aufgestanden und haben die Freilichtbühne verlassen. Und ihre Frauen – ein paar Schritte hinter ihnen – haben sich wie Frau Lot noch einmal nach dem Sodom auf der Leinwand umgedreht.

Eigentlich plausibel: Zärtlichkeit unter Männern schockt mehr als Sex.

Genau. Deshalb ist mir das mit der Zärtlichkeit auch so wichtig. Ich gehöre zu denen, für die es natürlich ist, sich männlich zu geben. Gleichzeitig kann ich aber als Mann Zärtlichkeit zeigen, einen anderen Mann auch küssen.

Haben Sie hier in Berlin 1969 den Stonewall-Aufstand überhaupt mitgekriegt?

Oh ja! Leute wie Rosa oder auch ich waren ja schon vernetzt mit den Amerikanern. Die Amerikaner waren unsere große Hoffnung. Wir haben über sie gelesen. Zum Beispiel im super-heterosexuellen Playboy. Der hat damals eine sehr tolerante Schiene gegenüber Schwulen gefahren.

Sie haben sich sehr um die Aids- Filme bemüht. Jetzt sagen immer mehr Leute, traurig, aber über Krebskranke wird auch nicht so ein Rummel gemacht ...

... und das stimmt nicht mal: Das war ja über Jahre ein Running Gag, daß man über unsere Dokumentarfilmarbeit gesagt hat, wir machten hier in Berlin das Krebsfilmfestival – denn es gibt sehr wohl sehr gute Filme über Krebskranke und von denen haben wir einige gezeigt. Die wurden genauso unter den Teppich gefegt wie die Aids-Filme jetzt. Das macht mich so rasend, daß wir nicht fähig sind, uns dem Tode würdiger anzunähern. Filme sind da eine ganz tolle Chance. Sie können für viele Ängstliche eine erste Chance sein, sich Sterbenden eben ohne Horror zu nähern. Man kann auch mit ihnen lachen, Filme bauen da eine Schwelle ab.

Zeigen solche Filme – siehe Derek Jarman – nicht auch, daß es etwas Neues zu entdecken gibt?

Ich glaube, man entdeckt eigentlich nichts Neues. Man sieht, daß das Alltagsleben bis zum letzten Augenblick weitergeht. Man sollte eigentlich nur entdecken, daß der Tod zum Leben gehört, daß der Tod die letzte Erfahrung des Lebens ist. So möchte ich sterben: Ich möchte irgendwann meine Sachen relativ ruhig beiseite geschafft haben, und dann gehe ich ins Krankenhaus, und dann sterbe ich. Wichtig finde ich, daß man von den Menschen, mit denen man gelebt hat, bis zu dem Punkt begleitet wird, wo sie nicht mehr können.

Wer hat Sie von all diesen schwul-lesbischen Filmberühmtheiten, die Sie bei Ihrer Arbeit kennengelernt haben, eigentlich am meisten beeindruckt?

... vielleicht Jean Marais. Rosa von Praunheim wird mir manchmal zu viel – aber ich respektiere ihn. Interview: Tom Kuppinger