Irre: Lesben & Schwule total normal!

■ 25 Jahre nach Stonewall: Verschlafen Lesben und Schwule ihre Chancen?

Lesben und Schwulen geht es so gut wie nie zuvor. Das Homo-Leben, lange von Versteckspielen, Scham und Diskriminierungsängsten überschattet, hat sich in unseren Breitengraden gründlich emanzipiert. Mehr denn je verlassen sich Lesben und Schwule heute auf die größer gewordene liberale Öffentlichkeit – und etablieren sich als aktiver Teil von ihr. Akzeptanz, mitunter sogar ein Hauch von Faszination ist angesagt. So mangelt es nicht mehr an Identifikationsfiguren, die weit über die Szene hinaus bekannt sind: von der Schriftstellerin Jeanette Winterson bis zur Sängerin k.d. lang, vom Tennisstar Martina Navratilova bis zu Popstar Jimmy Somerville. Tausende von Kids tanzen auf Techno-Parties ohne Berührungsängste mitten in der schwulen Sub. Als Freddy Mercury starb, schluchzte die Welt.

Auch jenseits der Medienwirklichkeit sind Lesben und Schwule nicht mehr zu übersehen. In den Parteien und Gewerkschaften boxen Homo-Gruppen lesben- und schwulenfreundliche Beschlüsse durch die Gremien. Bill Clinton warb in seinem Wahlkampf heftig um WählerInnen aus der Subkultur und nahm daran keinen Schaden. Traurige Ironie: Die Immunschwächekrankheit Aids, die vom Promi bis zum Stricher niemanden ausließ, trug viel dazu bei, Homosexuelle aus dem Abseits zu holen. Ein Gauweiler hat sich mit der von ihm propagierten Politik der brutalen Ausgrenzung nicht durchsetzen können. So viel Salonfähigkeit täuscht darüber hinweg, daß die politisch-rechtliche Anerkennung lesbisch-schwuler Lebensformen, zumindest hierzulande, noch völlig aussteht. Zwar wurde der Paragraph 175 dieser Tage abgeschafft. Sonst hat sich in den letzten 25 Jahren wenig getan. Ein Antidiskriminierungsgesetz wie in Dänemark, Schweden, Frankreich oder den Niederlanden gibt es nicht. Noch immer erhalten gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften keine rechtliche Absicherung. Landesverfassungen ignorieren die Notwendigkeit von Schutzbestimmungen. Ausnahme: Brandenburg. Auch Grundgesetz, Arbeits- und Dienstrecht geben sich ahnungslos. Die Kirchen scheren aus dem Stand der Dinge noch einmal reaktionär aus. Lesbische oder schwule Selbsthilfearbeit gilt nicht als gemeinnütziger Vereinszweck. Im Knast sind Lesben und Schwule ohne Rechte bei den Justizverwaltungen einer extrem homophoben Umgebung ausgesetzt. Selbst amnesty international rang sich erst vor drei Jahren durch, den Opfern von Gewalt und Terror beizustehen. Solche Opfer sind jenseits unseres mitteleuropäischen Tellerrandes zu Tausenden zu beklagen – doch ein generelles Asylrecht gibt es nicht.

Schön und erfolgreich

Es sind letztlich die Schönen und Erfolgreichen, die der warme Regen der öffentlichen Akzeptanz benetzt. Am Yuppie, dem Popstar, der aufstrebenden Freiberuflerin, die weiter nichts wollen als der Rest der Welt, nämlich interessant gefunden werden und Karriere machen, nimmt niemand groß Anstoß. Allerdings kennt auch das vielbeschworene liberale Klima sorgfältig gezogene Grenzen: Geschickte Umfragen konnten den Deutschen rasch entlocken, daß sie mit ihrer Abneigung gegen Lesben und Schwule im europäischen Vergleich weit vorn liegen. Die „Lindenstraße“ nahm ihr schwules Pärchen nach dem ersten Zungenkuß doch lieber wieder aus dem Programm. Und wer weiß, wie sich das deutsche Fernsehpublikum gebärden würde, wollte Biolek den hübschen jungen Mann, der ihm halbstündlich den Wein zuträgt, jedes Mal aufs Bäckchen küssen? Echte Krawalltunten, breitbeinige „kesse Väter“ – die Subkultur in ihrer ungeglätteten Erscheinungsform ist in den Medien nach wie vor tabu. Und sich in Großstädten relativ unbehelligt und frei bewegen zu können beruht eben auch auf routiniertem Vermeidungsverhalten. Wer kennt ihn nicht, den raschen Blick durch U-Bahnen, Busse, Straßen, um sich vor Pöbeleien abzusichern?

Politischen Freiraum füllen

Ähnlich wie der Feminismus in viele Bereiche des gesellschaftlichen und politischen Lebens einsickerte, fächerte sich auch die Lesben- und Schwulenbewegung auf. Lesben und Schwule kommen meist themenorientiert zusammen, arbeiten mit Heteras und Heteros zu gänzlich „unschwulen“ Themen, leben an den Orten ihres beruflichen oder politischen Engagements mehr oder weniger offen homosexuell. Wieviel Unterschied der schwule oder lesbische Blick auf ein beliebiges Themengebiet macht, bleibt meist unerforscht und ungesagt. Provokation ist out.

Der politische Freiraum, halb erkämpft, halb im Zuge der allgemeinen Liberalisierung geschenkt bekommen, wartet darauf, gefüllt zu werden. Doch die Szene gibt sich politisch weitgehend abstinent. Einzig die Gefahr von rechts wird gemeinsam thematisiert und ernst genommen. Dabei werden Lesben und Schwule bei dem Rechtsruck noch erstaunlich wenig von Haß und Gewalt getroffen. Es geht nicht um Verharmlosung – die zunehmenden Übergriffe sprechen für sich. Dennoch ist es heute gefährlicher, als Jude vor Fernsehkameras zu treten.

Fähnchen im Wind

Zum Verblassen der Bewegung trägt bei, daß Lesben und Schwule sich traditionell schwertun mit der Zusammenarbeit. Interessenüberschneidungen sind sicher nur partiell gegeben, denn die meisten Lesben definieren sich noch immer mehr über den Feminismus als über ihre Sexualität. Und die Schwulen können, wie so viele Männer, mit Sex zwar viel, mit Feminismus aber dürftig wenig anfangen.

Solange es ein diffuses „Klima“ bleibt, das homosexuelle Lebensformen duldet oder für zeitgeistgemäß erachtet, ist wenig gewonnen. Fähnchen drehen sich nun mal im Wind. Lesben und Schwule müssen sich schon selbst darum kümmern, ihre gesellschaftliche Stellung zu festigen. Das heißt vor allem, der allgemeinen Entsolidarisierung nicht tatenlos zuzusehen. Wenn die Umgangstöne rauher werden, wird sich zeigen: Was haben Lesben und Schwule tatsächlich über den point of no return hinüberretten können?

Marc Fest, Susanne Billig,

Elmar Kraushaar, Gabriele Mittag,

Jürgen Bieniek, Dirk Evenson