An der durchlässigen Grenze der Stadt

■ Der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard las am Freitag auf Kampnagel

Wie mag er wohl aussehen? Wie gibt sich ein Vetreter der poststrukturalistischen Philosophie, jenes Denkens das in Form der Bändchen des Merve-Verlags so fragmentarisch und vage aus Frankreich in hiesige auch gänzlich unakademische Kreise gelangte? Fragen, die trotz der Eröffnung der Fußball-WM über 800 Schaulustige in die Halle 6 lockten.

Jean-Francois Lyotard gab in seinem gut geschnittenen Anzug und feinem Schuhwerk ganz den Großstadtintellektuellen, Pariser Prominenz. Sichtlich um Verständnis und Genauigkeit bemüht, trug der 70-jährige Denker im Rahmen der Vortrags-Reihe „Perspektiven metropolitaner Kultur“ betont langsam seinen Essay „Die Philosophie in der Randzone“ im französischen Original vor. Im ersten Teil des Vortrags nahm Lyotard eine Standortbestimmung der Philosophie in einer sich stetig ausbreitenden Metropole vor. Die Philosophie, seit dem 17. Jahrhundert in der Stadt beheimatet, müsse ihre Positionen neu bestimmen, weil neue Medien via Telekommunikation und Teleproduktion den Charakter der Städte grundsätzlich verändert haben. „Auf den ersten Blick scheint die Megapole von heute wie die von morgen die moderne Metropole über ihre Grenzen auszudehnen, der Zone der Vorstädte einen neuen Gürtel von randständigen Vororten hinzuzufügen ...“ Mit dieser Ausdehnung, einer Verstädterung der Welt, breche nun eine Philosophie des weltweiten Zusammenlebens hervor.

Im zweiten Teil seines Vortrags variierte, wendete und nuancierte Lyotard seine bereits in „Das Grabmal des Intellektuellen“ formulierte süße Trauer über das Verschwinden der philosophischen Inhalte und Gegenstände, die nur noch nach interessant oder uninteressant abgeklopft werden und so ein Regime des Stils als einzigen Wert einläuten. Für Sprachkundige wurde dieses Verdikt noch untermauert, da sich der “phrasophile Stilist“ über zahlreiche Sprachfiguren in seinen Ausführungen nicht zuletzt von sprachlichen Gesetzmäßigkeiten leiten ließ.

Die folgende Diskussion erhielt wegen der penetranten Kameraderie auf dem Podium und einiger während 200 Jahren Geistes-Geschichte aufgeladener Begriffe wie „Erhabenheit“ leider zunächst den Charakter eines akademischen Kolloquiums, zeigte aber Lyotards Bereitschaft, selbst in freier Rede Worthülsen wie „Gemeinschaft“ grundsätzlich in Zweifel zu ziehen.

Erst als auf neu entstehende Grenzen im Innersten der Megapole angespielt wurde und damit die ethnischen Konflikte der neuen Großstädte thematisiert wurden, war auch Lyotard gezwungen in die Untiefen des Konkreten herabzusteigen. Derartige Rückfälle in archaisches Verhalten hielt der Denker schlechthin für unvermeidbare Übergangsstadien bei territorialen Auseinandersetzungen, die in Bälde verschwinden werden. Allein, woher nimmt Lyotard nur diesen lakonischen Optimismus?

Volker Marquardt