Staatsfeind Nummer eins

Die Hexenjagd auf den Filmemacher Lindberg  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

„Am 20. Dezember vorletzten Jahres hatten wir genug. Wir standen vom Frühstückstisch auf, packten die Reisetaschen und verließen unser Haus und unser Land für immer.“ Was sich wie der Bericht über eine abenteuerliche Flucht aus einer Diktatur anhört, ist die Geschichte eines Mannes, der von Norwegen ins Nachbarland Schweden zog; es aber nicht wagte, eine Umzugsfirma zu bestellen, sich von den Nachbarn zu verabschieden oder gar seine neue Adresse zu hinterlassen. Aus Angst, wieder gefunden zu werden. Sein Verbrechen: die Grausamkeiten der norwegischen Robbenjagd gefilmt zu haben.

Odd F. Lindberg, Journalist, Fotograf und Umweltaktivist, lebt heute in seiner „Fluchtburg“, einem alten Bauernhof irgendwo in Schweden. Erstmals seit anderthalb Jahren hat er Kontakt zu einigen JournalistInnen aufgenommen. Wo genau er lebt, wird nicht berichtet werden. Seine Angst, die wütenden Robbenfänger könnten ihn auch hier ausfindig machen, scheint nicht übertrieben.

Die Flucht nach Schweden war der Schlußpunkt einer Kette von Ereignissen. 1987 erhielt Lindberg die Erlaubnis, das Robbenfangschiff „Harmoni av Tromsö“ zu begleiten. Er wollte ein Buch und einen Film über die traditionelle Robbenjagd machen, die in Norwegen mit einer eigenartigen Mischung aus Tradition, überkommenen Freiheitsrechten und Abenteuer verbrämt und verteidigt wird. Was er sah, war ein grauenhaftes Massaker an den Tieren. Im darauffolgenden Jahr wiederholte er die Fahrt. Er wollte sicher sein, keine zufälligen Auswüchse erlebt zu haben.

Der Bericht, den er über seine Erlebnisse beim Fischereiministerium ablieferte, erhielt einen „Geheim“-Stempel und verschwand in der Schublade. Lindberg überließ ihn einer Lokalzeitung in Tromsö, die ihn publizierte und daraufhin angeklagt wurde, Staatsgeheimnisse zu veröffentlichen. 1989 erschien Lindbergs Buch „Auf Robbenfang vor Grönland“. In Schweden. Ein norwegischer Verlag hatte sich nicht gefunden. Seine Bilder wurden in der Weltpresse veröffentlicht und lösten einen Sturm der Empörung aus. Sein Film wurde von mehreren TV- Sendern ausgestrahlt.

In Norwegen führten Lindbergs Veröffentlichungen zu einer Welle des Hasses. Die Boulevardpresse erklärte ihn wörtlich zum „Volksfeind Nr. 1“, er wurde angeklagt, seine Filme so geschnitten zu haben, daß sie die wirklichen Geschehnisse verfälschten. Menschen spuckten ihm auf offener Straße ins Gesicht, sein Auto wurde mehrfach demoliert, sein Boot versenkt. Lindberg: „Täglich kamen Morddrohungen per Telefon und Drohbriefe mit der Post.“ Thomas Mathiessen, Rechtssoziologe an der Universität Oslo: „Hier ist etwas zum Thema Meinungsfreiheit in einem demokratischen Land abgelaufen, was eigentlich unvorstellbar schien.“

Auch nach seiner Flucht ging die Verfolgung weiter. Nachdem das schwedische Fernsehen vor einigen Wochen eine Dokumentation zum Fall Lindberg zeigte, aktivierte Oslo offenbar diplomatische Kanäle, um ausländische TV-Stationen an einer Übernahme zu hindern. Die beispiellose Hexenjagd hat Lindberg nicht zum Schweigen gebracht. Er schreibt gerade an einem neuen Buch. Lindberg: „Kurz nach der Ausstrahlung meines Films 1989 zwang die Weltmeinung Norwegens Regierung dazu, die Jagd auf Robbenjunge zu verbieten. Und bis heute gibt es keinen Markt für die Felle.“ – Lindbergs Geschichte. Ein Sieg der Meinungsfreiheit. Und eine donnernde Niederlage.