Vor der Einstellung?

■ Im Prozeß gegen elf junge Männer wegen einer angeblichen Massenschlägerei in Storkower Disko zeichnet sich das Ende ab

Immer wenn der Vorsitzende der 13. Großen Strafkammer die Fassung zu verlieren droht, wird er sarkastisch: „Hallo, hallo, Herr Zeuge, sind Sie noch da?“, spricht er einen 18jährigen Maurerlehrling an, der während seiner Aussage in einen tranceähnlichen Zustand verfällt.

Auch am sechsten Verhandlungstag des Prozesses gegen elf Berliner Jugendliche bleiben die Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft vage. Die Anklagevertretung wirft den Jugendlichen vor, im Juli vergangenen Jahres in einer Storkower Diskothek vorsätzlich eine Massenschlägerei inszeniert und damit schweren Landfriedensbruch begangen zu haben.

Bei den Ereignissen am 2./3. Juli 1993 sollen zahlreiche Diskobesucher durch umherfliegende Möbel, Biergläser und andere Gegenstände verletzt worden sein. In vermeintlicher Notwehr, so die Anklage weiter, habe der Inhaber der Diskothek „Volkshaus“ sechs der insgesamt elf Angeklagten mit gezielten Pistolenschüssen zum Teil schwer verletzt.

Laut Anklageschrift soll vier Wochen zuvor eine kleine Gruppe der jetzt angeklagten Berliner in Storkow gewesen sein und Streit mit den Türstehern der Disko „Volkshaus“ gehabt haben. Dabei hätten die Angeklagten Drohungen ausgestoßen wie „Wir kommen wieder und fackeln euch den Laden ab!“

Nicht nur, daß die mehr als zwanzig Zeugen im Verlauf der Verhandlungen zum Teil widersprüchliche Aussagen von den Ereignissen im Juli geliefert hatten. Schon zu Beginn des Prozesses war es fragwürdig geworden, ob die Staatsanwaltschaft ihre Anklage überhaupt würde aufrechterhalten können, denn kaum einer der Hauptbelastungszeugen konnte sich noch an seine kurz nach den Vorfällen gemachten Aussagen bei der Polizei erinnern.

Häufig wichen die im Gerichtssaal gemachten Aussagen von den früheren derart ab, daß man den Eindruck kriegen konnte, die Polizeiprotokolle seien durch spontane Assoziationen der Polizeibeamten zustande gekommen. Zudem konnte keiner der mehr als zwanzig Zeugen auch nur einem der elf Angeklagten eine Straftat zuordnen oder gar einen bei der Schlägerei verletzten Lokalgast benennen.

Der Eindruck, die Angeklagten seien weniger Täter als vielmehr Opfer des schießwütigen Disko- Inhabers, wurde noch durch den Umstand verstärkt, daß dieser mit seiner großkalibrigen Browning auf einen bereits am Boden liegenden Jugendlichen schoß.

Mit zunehmender Dauer des Prozesses schien auch der Vorsitzende Richter von einer verminderten Schuld der Angeklagten auszugehen. Immer skeptischer wurden seine Zeugenbefragungen. Und immer häufiger bekam er auf die Frage „Haben Sie das selbst gesehen?“ als Antwort das Zugeständnis, daß der Zeuge den jeweiligen Vorfall nur vom Hörensagen kannte.

Bereits am dritten Verhandlungstag dann hatte der Vorsitzende Richter die polizeiliche Meldepflicht der Angeklagten für die Dauer der Hauptverhandlung aufgehoben. Gestern, gleich zu Beginn der Verhandlung, bat er den Staatsanwalt, darüber nachzudenken, die Zeugenvernehmung abzukürzen und den Prozeß ohne Urteil zu beenden. Peter Lerch