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„Mr. Nice Guy“, ein tragischer Held Von Andrea Böhm

Daß die große Mehrheit der AmerikanerInnen sich nicht im geringsten für die Fußball-WM interessiert, ist bekannt. Womit einiges über die Relevanz von Fußball in diesem Land gesagt ist, aber wenig über das, was die Menschen in den USA derzeit beschäftigt. Tatsächlich gibt es ein Thema, das dieser Tage in allen Zeitungen und Talk- Shows debattiert wird. Die Story enthält alle Ingredienzen für ein Mediendrama: Ein Sportidol und Hollywoodschauspieler wird des Mordes an seiner Ex-Frau verdächtigt, flieht vor der drohenden Festnahme mit seinem besten Freund. An jenem Sonntag, da in Los Angeles das WM-Spiel Rumänien gegen Kolumbien und in New York das Endspiel um die Basketballmeisterschaft zwischen den „New York Knicks“ und den „Houston Rockets“ ausgetragen wird, schalten sich plötzlich alle maßgeblichen Fernsehsender aus ihrem regulären Programm aus, um per Hubschrauber live zu übertragen, wie ein Dutzend Streifenwagen des Los Angeles Police Department auf der Autobahn einen ehemaligen Footballstar verfolgen, der sich einen geladenen Revolver an den Kopf hält und droht, sich umzubringen. An den Autobahnauffahrten stauen sich Tausende von Neugierigen, einige mit handgemalten Transparenten, die ihren Helden anfeuern: „Go OJ“.

OJ ist Orenthal James Simpson, eine Legende des amerikanischen Football – seinerzeit mit den „Buffalo Bills“ und später den „San Francisco 49ers“ so bekannt wie Franz Beckenbauer mit Bayern München. Der sportliche Ruhm und sein Image als allseits beliebter „Mr. Nice Guy“ brachte ihm TV- Rollen in Fernsehserien und Werbespots ein. Daß so ein Volksidol auf bestialische Weise seine Ex- Frau und einen zufällig anwesenden Bekannten erstochen haben soll, worauf, bei allem Respekt für die Unschuldsvermutung, alle Indizien hinweisen, wollten viele nicht wahrhaben, die Simpson zu Hause vor dem Fernsehschirm die Daumen drückten. Jeder, der es wissen wollte, wußte zu diesem Zeitpunkt längst aus den guten und schlechten Zeitungen und Talk-Shows, daß ihr Held einen „kleinen Makel“ mit sich trug: Er hat immer wieder seine Frau Nicole verprügelt und nach der Scheidung 1992 mit dem Tod bedroht. Intervenierenden Polizisten wie Richtern erklärte er, daß das seine Privatangelegenheit und „kein Grund zur Aufregung“ sei. Die schlossen sich dieser Interpretation offenbar an und gewährtem ihm einen großzügigen VIP-Bonus: Ein einziges Mal wurde er zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt, die er nicht ableistete.

Auf der einen Seite rätselt man nun, wie ein so „netter Kerl“, der so gut Football spielen und Werbung für Mietautos machen konnte, zu solchen Handlungen fähig sein kann. Auf der anderen Seite sitzen Sozialarbeiterinnen, Juristinnen und ein paar Millionen andere Frauen und erwidern lakonisch, daß in den USA alle fünfzehn Sekunden eine Frau von ihrem Mann oder „Lieb“-Haber verprügelt wird. Die Chance, daß sich unter den Schlägern ein Mr. Superstar befindet, ist so klein also nicht. Diese Fakten sickern in Los Angeles dieser Tage nicht so recht durch – vielleicht, weil OJ Simpson der Öffentlichkeit mitgeteilt hat, daß er sich in der Ehe manchmal wie „ein geschlagener Mann gefühlt“ habe. So bleibt der Held ein Held – wenn auch ein tragischer.

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