Heilige Familie

■ In Irland sorgt eine TV-Serie von Roddy Doyle für Ärger

Dublin (taz) – Die Flitterwochen sind für Roddy Doyle vorbei. In seinen beiden Büchern „The Commitments“ und „The Snapper“, die als Filme Welterfolge feierten, beschrieb er die heiteren Seiten des Lebens in dem fiktiven Dubliner Arbeiterviertel Barrytown. Arbeitslosigkeit, Drogenprobleme, Alkoholismus und steigende Lebensmittelpreise spielten darin kaum eine Rolle, selbst die miesen Typen sind in den Büchern und Filmen letztendlich liebenswerte Charaktere. Die DublinerInnen schlossen Doyle für sein überaus vorteilhaftes und humorvolles Portrait der irischen Hauptstadt und ihrer BewohnerInnen ins Herz.

Um so übler nimmt man ihm „Family“, eine vierteilige Fernsehserie, zu der Doyle sein erstes Drehbuch geschrieben hat. „Family“ zeigt die Kehrseite. Diesmal geht es um die Familie Spencer: Charlo (Sean McGinley), ein Macho und Kleinkrimineller, der seine Frau schlägt und mit den Frauen seiner Freunde schläft; seine Frau Paula (Ger Ryan), eine Alkoholikerin, die ständig zwischen Auflehnung und Resignation pendelt; die 15jährige Tochter Nicola (Neili Conroy), die vergeblich versucht, durch ihren Job als Näherin der gewalttätigen Atmosphäre zu Hause zu entfliehen; und der 13jährige Sohn John Paul (Barry Ward), der zwischen Bewunderung für den Vater und Sorge um die Mutter schwankt und in der Schule immer mehr Probleme bekommt. Jeder der vier Hauptfiguren ist eine TV-Folge gewidmet, in der die Geschichte aus ihrem jeweiligen Blickwinkel erzählt wird.

Vom Start weg hat die Fernsehserie einen Aufschrei der Empörung ausgelöst. Das lag weniger an der mit Kraftausdrücken gespickten Sprache oder an den Sexszenen als vielmehr am Drehort: Es ist diesmal nicht das fiktive Vorstadtviertel, wie es in Irland Dutzende gibt, sondern Ballymun, die einzige Hochhaussiedlung der Insel. Ballymun ist der Müllabladeplatz der Dubliner Gesellschaft. Mehr als 70 Prozent der 20.000 Bewohner sind arbeitslos. Ein Teufelskreis: Wer in Ballymun wohnt, wird bei der Jobvergabe benachteiligt, nur wenige schaffen den Absprung. Für ledige Mütter hat man ein Ghetto im Ghetto geschaffen: Sie wurden allesamt im selben Hochhaus untergebracht.

Die sechs Wohntürme, die nach den Führern des Osteraufstands von 1916 benannt sind, wurden in den sechziger Jahren gebaut. Es war eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs. Zum ersten Mal in der irischen Geschichte überstieg die Zahl der Rückkehrer die der Auswanderer. Deshalb mußte schnell neuer Wohnraum her. Innerhalb von anderthalb Jahren zogen die Baufirmen 3.000 Wohnungen hoch, dazu ein Einkaufszentrum und einen Skulpturenpark – das war's. Vorsichtshalber legte man die Wahlkreisgrenze mitten durch die Siedlung, damit Ballymuns politische Stimme nicht zu stark wurde.

Lokale Initiativen, Gemeinde- und Sozialarbeiter haben sich nun beschwert, daß Doyle ein einseitiges Bild von Ballymun malt und keine der guten Seiten zeigt – das Gemeinschaftsgefühl, die kulturellen Veranstaltungen, die stets ausgebuchten Abendkurse. „Wie soll ich denn der Serie Ausgewogenheit aufzwingen“, fragt Roddy Doyle, der im letzten Jahr als erster irischer Schriftsteller den begehrten Booker-Preis erhielt. „Soll man zeigen, wie irgend jemand in der Nachbarschaft gerade einen Rosenkranz betet, während Charlo seine Frau schlägt? Das ist doch lächerlich.“ Der Gemeindepfarrer Michael O'Sullivan meint jedoch: „In der Fernsehserie gibt es Gewalt gegen Frauen, Kindesmißbrauch, Dreck, Lärm, Fäkalsprache – die Leute in Ballymun fühlen sich vor der Nation bloßgestellt.“ Das läßt Doyle jedoch nicht gelten. „Außerhalb von Dublin kennt kaum jemand Ballymun, es ist den Leuten auch völlig egal“, sagt er. „Nur weil Ballymun der Drehort ist, assoziieren die Zuschauer die Handlung noch lange nicht damit, das wäre zu einfach.“

Das irische Fernsehen RTE, das die Serie mit der BBC koproduziert hat, warnte vor jeder Folge, daß die Sendung nicht jugendfrei sei. Im Abspann wurden die Telefonnummern verschiedener Hilfsorganisationen eingeblendet. „Nach der letzten Folge haben uns Frauen bis weit nach Mitternacht angerufen“, sagt Roisin Mac Dermott von „Women's Aid“, einer Frauen-Hilfsorganisation. „Viele Frauen schöpften Mut, als sie sahen, daß Paula die Kraft aufbrachte, alleine weiterzumachen.“ Die Serie endet damit, daß Paula ihren Mann vor die Tür setzt.

Doyle arbeitet zur Zeit an einem neuen Buch, in dem er Paulas Geschichte weiterspinnt – zwei Jahre nach „Family“. Ihm kam es darauf an, zum Schluß der Serie deutlich zu machen, daß Paula die Kontrolle über ihr Leben zurückgewonnen hat. „Die Idee zu der Serie entstand durch 14 Jahre Arbeit als Lehrer, durch Beobachtungen sowie eine Art Wut und Frustration“, sagt er. „Es war wie eine Therapie. Ich habe die Serie absichtlich ,Family‘ genannt: Es ist ein heiliges Wort in Irland.“ Ralf Sotscheck