„Asylantenfrei“ – no future

Einst kamen im kenianischen Liboi auf einen Einheimischen acht somalische Flüchtlinge / Jetzt schickt der UNHCR die Somalis nach Hause – und Liboi verfällt  ■ Von Bettina Gaus

Noch stehen in der eintönigen Halbwüste die großen grünen Zelte, in denen die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) ein Krankenhaus eingerichtet hatte. Aber die Zelte sind leer. Nur Papierfetzen liegen am Boden, in einer Ecke steht ein Hocker.

Die Klinik war einst zur Versorgung von Flüchtlingen aus Somalia eingerichtet worden. 40.000 Hilfesuchende haben hier unmittelbar neben der kenianischen Kleinstadt Liboi, zwölf Kilometer von der Grenze zu Somalia entfernt, bis vor wenigen Wochen gelebt. Jetzt ist das Lager geschlossen worden – und damit schließt auch das Krankenhaus seine Pforten.

Ein einziges Bett gibt es noch in der Kinderstation. Darin liegt der einjährige Mahdi – ein für sein Alter viel zu kleiner, magerer Junge. Er ist an einen Tropf angeschlossen. Seine Mutter Rukiya Abdi Harun weiß nicht, was aus ihrem Sohn werden soll: „Er ist der einzige Patient hier, weil er Kenianer ist. Aber er ist immer noch krank. Er hat Durchfall. Ich bin sehr traurig, daß das Krankenhaus schließt.“

In der MSF-Klinik waren neben somalischen Flüchtlingen auch ortsansässige Patienten betreut worden. Jetzt sind diese, wie in der Vergangenheit, wieder auf das kleine Gesundheitszentrum in der Ortsmitte von Liboi angewiesen, das Kranke nur ambulant behandeln kann. Das Distriktkrankenhaus von Garissa ist fast 200 Kilometer entfernt.

Sorgen um ihre Zukunft machen sich auch die lokalen Angestellten. Hunderte der weniger als 5.000 Einwohner der kleinen nordostkenianischen Stadt Liboi hatten bei verschiedenen Hilfsorganisationen gearbeitet. „Ich habe hier das erste Zelt am 13. Februar 1992 aufgestellt, und heute, am 17. Juni 1994, werde ich das Krankenhaus bis auf den letzten Nagel abbauen“, meint der kenianische MSF-Angestellte Muhamad Farrah. „Ich werde arbeitslos. Ich werde versuchen, irgend etwas anderes anzufangen, aber ich gehe nicht aus Liboi weg.“

Andere haben die Stadt bereits verlassen. In der Hauptstraße mit ihren vielen kleinen Läden hängen Vorhängeschlösser vor versperrten Metalltüren. 40.000 Neuankömmlinge bedeuteten vor zwei Jahren einen wirtschaftlichen Aufschwung, auch wenn die meisten arm waren. „Die Geschäftsleute sind schon gegangen“, erklärt der zwanzigjährige Siad Abdi, der in Liboi aufgewachsen ist. „Die Leute hier in der Stadt sind bedrückt, weil das Camp schließt.“ Nur wenige Männer und Frauen schlendern hier die Straßen entlang, auf denen bis vor kurzem ein buntes Gedränge von fliegenden Händlern, Eselskarren und Kamelen herrschte. Ursprünglich hatten die Einwohner von Liboi dem Ansturm der Somalier ratlos und auch zornig gegenübergestanden. Die ersten Flüchtlinge waren kurz nach dem Sturz des somalischen Präsidenten Siad Barre Anfang 1991 hier eingetroffen. Das UNO-Flüchtlingswerk UNHCR hatte die Lage auch ein Jahr später noch nicht im Griff: Flüchtlinge mußten bis zu zwei Tage für Wasser anstehen, die medizinische Versorgung war völlig unzureichend. Die Neuankömmlinge hatten das ohnehin trockene Gebiet in eine tote Landschaft verwandelt. Über Kilometer hinweg war kein Grün, sondern nur noch Baumstümpfe zu sehen. Die Bäume waren von den Flüchtlingen gefällt worden, die aus den Ästen und Zweigen ihre Hütten gebaut hatten.

„Feuerholz ist dreimal so teuer wie früher“, erklärte damals der für Liboi zuständige Verwaltungsbeamte Ahmed Ramata. „Außerdem sind viele Flüchtlinge Nomaden, die mit ihren Tieren über die Grenze gekommen sind. Jetzt muß die Bevölkerung das ohnehin knappe Wasser und Weideland mit ihnen teilen.“ Herbe Medienschelte schreckte den UNHCR schließlich auf. Die Spitze der Organisation in der Hauptstadt Nairobi und die Leitung des Flüchtlingslagers wurden ausgewechselt. Das Lager Liboi wurde zu einem Lehrbeispiel für Krisenmanagement. Die monatliche Todesrate fiel unter das in dieser Region übliche Niveau – in einem Flüchtlingslager eine kleine Sensation. Neue Brunnen sicherten die Wasserversorgung. Mängel in der Nahrungsmittelhilfe wurden durch Vitamin- C-Tabletten ausgeglichen.

Aber die Probleme des Camps ließen sich mit gutem Willen allein nicht lösen. Das Flüchtlingslager war stets nur als Durchgangslager gedacht gewesen. Es lag allzu dicht an der Grenze und hätte deshalb UNO-Richtlinien entsprechend eigentlich gar nicht existieren dürfen – die geringe Entfernung zum Bürgerkriegsland bedeutete ein ständiges Sicherheitsrisiko. Die Folge: All das, was in anderen Camps das Leben erträglich macht, konnte in Liboi nicht eingerichtet werden. Es gab keine Schulen für die Kinder und keine Hilfestellung für Flüchtlinge in Form von Nähmaschinen, Saatgut oder Geflügel, womit sie sich selbst etwas Geld hätten verdienen können.

Die kenianische Regierung und der UNHCR stimmten darin überein, daß das Lager bei Liboi so schnell wie möglich geschlossen werden sollte. Aber noch vor einem Jahr glaubte kaum jemand daran. Etwa 400.000 Flüchtlinge, die meisten aus Somalia, waren bis Dezember 1992 nach Kenia gekommen. Noch zwei Jahre zuvor hatte der UNHCR hier nur etwas mehr als 4.000 Hilfesuchende zu versorgen gehabt. Die Lager des Landes waren überfüllt. Es gab keinen Platz für die Flüchtlinge von Liboi. Den meisten war das gerade recht. Kaum jemand wollte von Liboi in ein anderes Lager gebracht werden. „Das hier war eine Gemeinschaft, und zwar eine Gemeinschaft, in der die Leute die Möglichkeit hatten, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, körperlich wie geistig, und das nach einem besonders scheußlichen Bürgerkrieg, einem der schlimmsten, die es je gab“, erklärt Jack Myer vom UNHCR, der die Schließung des Camps organisiert hat. Auch jetzt, in den letzten Wochen, war Widerstand zu überwinden. Aber die äußeren Gegebenheiten waren günstig: Seit sich die Lage in verschiedenen Regionen Somalias stabilisiert hat, ist die Zahl der somalischen Flüchtlinge in Kenia auf unter 300.000 gefallen.

Den Hilfesuchenden in Liboi wurden zwei Möglichkeiten angeboten. Sie konnten sich nach Dadaab, drei gemeinsam verwalteten Flüchtlingslagern, achtzig Kilometer weiter im Landesinneren, bringen lassen, oder sie konnten sich auf den Weg zurück in ihre Heimat machen, ausgerüstet mit Nahrungsmitteln für neunzig Tage und zwei Decken vom UNHCR. Allein im März entschieden sich 8.000 Flüchtlinge in Liboi für die zweite Möglichkeit. Aber höchstens ein paar hundert wurden beobachtet, die danach die Grenze überquerten. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß viele derjenigen, die ihre Rationskarten gegen die Rückkehrhilfe ausgetauscht haben, Kenianer waren, die sich in das Flüchtlingslager eingeschmuggelt hatten – oder somalische Flüchtlinge, denen es trickreich gelungen war, eine zweite Rationskarte zu ergattern.

Not macht erfinderisch. Allen Mitarbeitern von internationalen Organisationen war bewußt, daß sich unter die Hilfesuchenden aus Somalia auch Kenianer gemischt hatten. Aus verständlichen Gründen: Die Lebensbedingungen im Nordosten Kenias sind angesichts von Dürre und Wassermangel kaum weniger hart als in Somalia. Und auch die in vielen Lagern geübte Praxis, Rationskarten zu fälschen, hat Gründe: Für den Überschuß läßt sich etwas eintauschen, was im Warenkorb der Helfer nicht enthalten ist – Milch, Fleisch und Obst beispielsweise. Die genaue Zahl der Flüchtlinge zu erfassen war ohnehin unmöglich: „Seit wir kamen, konnten wir nicht ohne Begleitschutz von Soldaten durchs Lager fahren“, sagt Jack Myer vom UNHCR. Banditen waren eine ständige Bedrohung.

Jack Myer ist stolz darauf, daß es am Ende möglich war, das Camp bei Liboi gewaltfrei und vollständig zu räumen. Eine einfache Maßnahme hatte dies ermöglicht: Wer sich für die Rückkehr nach Somalia entschieden hatte, wurde bei der normalen Lebensmittelverteilung nicht mehr berücksichtigt. Jack Myer: „Ich hasse es, zu solchen Mitteln zu greifen, aber was sonst hätten wir tun sollen?“ Etwa die Hälfte der Flüchtlinge wählte am Ende die Umsiedlung in ein anderes Camp, die anderen kehrten nach Somalia zurück. Das ehemalige Lager bietet jetzt ein gespenstisches Bild: Tausende von kleinen Rundhütten erstrecken sich über ein Gebiet von mehreren Quadratkilometern – und alle sind leer. Nur Abfälle und ein paar Lumpen zeugen davon, daß hier bis vor kurzem drangvolle Enge geherrscht hat.

Einige wenige Männer laufen in der Geisterstadt umher. Sie stammen aus Liboi und sammeln im Auftrag des UNHCR Müll auf, um ihn zu verbrennen. Einer von ihnen, Abdi Kahin Osman, meint: „Nachdem der UNHCR das Lager geschlossen hat, sollte die Organisation jetzt auch die Umweltschäden beseitigen, die durch die Flüchtlinge entstanden sind. Da ist uns viel versprochen worden.“

Hilfsorganisationen versuchen die negativen Folgen, die durch die Schließung des Camps für die ortsansässige Bevölkerung entstehen, zu mildern. Sie hinterlassen Baumaterial, Medikamente und Werkzeuge. Straßen, die durch die mit Hilfsgütern schwer beladenen Lastwagen beschädigt worden sind, werden repariert. Bohrlöcher, die für die Versorgung des Lagers erforderlich wurden, sichern für die Zukunft eine bessere Wasserversorgung der Stadt Liboi, als das früher der Fall gewesen ist.

Dennoch werden negative Folgen über Jahre hinweg spürbar sein. Ein Programm zur Wiederaufforstung ist der lokalen Verwaltung versprochen worden. Aber wer ist dafür verantwortlich? Die deutsche GTZ (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit) habe ihre Mithilfe versprochen, heißt es in Liboi. Demgegenüber erklärt Detlef Mey von der GTZ in Nairobi: „Wir haben den Vorschlag gemacht, den UNHCR mit unserem Fachwissen zu unterstützen. Das Personal muß vom UNHCR gestellt werden.“

Bislang aber steht noch nicht einmal fest, ob überhaupt jemand vom UNHCR in Liboi bleiben wird. Panos Moumtzis, Sprecher des UNHCR in Nairobi: „Unsere Erfahrung bei der Schließung anderer Flüchtlingslager zeigt, daß für derartige Programme sehr schwer Mittel zu bekommen sind.“ Die Skepsis von Abdi Kahin Osman ist verständlich: „Solange wir nicht sehen, daß etwas passiert, glauben wir an gar nichts.“

Ist die Schließung des Camps überhaupt von Dauer? Ein paar hundert Neuankömmlinge haben sich in den letzten Wochen bereits eingefunden. „Sie sind in der Verantwortung des UNHCR“, meint der derzeit zuständige kenianische Verwaltungsbeamte in Liboi, Martin Onyango. Jack Myer vom UNHCR gibt zu: „Vielleicht wird das mit der Schließung langfristig nicht funktionieren.“

Würde das irgend jemandem außer den Einwohnern von Liboi auffallen? Nach dem Ende einer Krise zieht die Karawane der Journalisten weiter. Was an gewachsenen Strukturen zerstört worden ist, zeigt sich ohnehin oft erst nach langer Zeit. Wie wird es in zwei Jahren in der Umgebung des tansanischen Lagers Benaco aussehen, wohin sich jetzt mehr als 300.000 Hilfesuchende aus Ruanda gerettet haben?