■ Heute wird Rudolf Scharping Kanzlerkandidat: Bis zum bitteren Ende
„But Rudolf Scharping is a honourable man“ – die Eloge, die Gerhard Schröder im Spiegel dieser Woche auf seinen Rivalen hielt, war offensichtlich, was ihre Abgefeimtheit anbelangt, an Shakespeare geschult. Noch bevor die SPD – die Reihen fest geschlossen – in Halle ihren Kandidaten aufs Schild hebt, ist er in Hannover beerdigt worden. Einerseits, so Schröder, ist mit „Arbeit, Arbeit, Arbeit!“ kein Einbruch in neue Wählerschichten möglich. Andererseits empfiehlt er dem Kanzlerkandidaten, jetzt sein Ohr gegenüber denen zu verschließen, die zum Kurswechsel raten. „Eine politische Strategie muß zur Person passen und muß, auch in Niederlagen, Kontinuität deutlich werden lassen.“ Es ist die Kontinuität, die von Vogel 1983 über Rau 1987 und Lafontaine 1990 zu Scharping 1994 führt. Mit starrem Blick und durchgedrücktem Kreuz praktizierte Unerschütterlichkeit mag rührend sein, mitleiderregend – das Wählerverhalten wird sie nicht beeinflussen.
Wir werden, auch wenn Retortenslogans wie „Sicherheit statt Angst“ es nicht bis auf die Plakatwände schaffen werden, einen Wahlkampf des SPD-Kandidaten erleben, der mit der Befindlichkeit und den Erwartungshaltungen der Wähler nichts mehr gemein haben wird. Aber das Problem der SPD ist nicht, daß sie einfach Pech hatte mit dem Datum des wirtschaftlichen Aufschwungs, daß ihre Parolen am wiedergefundenen Optimismus des Publikums abprallen. Der Fehler war vorprogrammiert, denn Scharping setzte auf Verunsicherung und Angst breiter Wählerschichten, statt die sozialen Veränderungswünsche zu mobilisieren, die keineswegs nur am linken Rand des Wählerspektrums ausmachbar sind. Ein Blick in den Entwurf des Regierungsprogramms genügt. Wer vom ökologischen Umbau der Wirtschaft psalmodiert und gleichzeitig darauf hofft, „daß die deutsche Automobilindustrie mit Benzinsparautos auf den Weltmärkten von morgen an der Spitze liegt“, spekuliert allzusehr auf die Dummheit des Wahlvolks, auf sein Sicherheitsbedürfnis – und auf das deutsche „nationale Interesse“, das bei der CDU Schäubles und Kohls bestens aufgehoben ist.
Hätte die SPD ein durchdachtes, gut durchkalkuliertes Programm der ökologischen Umsteuerung und der Umverteilung der Vereinigungslasten beschlossen und propagiert, so hätte sie der Stimmungsumschwung in der Bevölkerung nicht derart aus der Bahn werfen können. Denn dann wäre es um „Maßnahmen, nicht um Personen“ gegangen, wie William Pitt der Ältere zu sagen pflegte. Statt von Kohl plattgewalzt zu werden, hätte die SPD den Kampf um das drei bis fünf Prozent starke „Innovationspotential“ bei den Wechselwählern aufnehmen können – und die Grünen in der Tasche gehabt. Eine formelle Koalitionsaussage wäre überflüssig gewesen. So aber spiegelt die Weigerung der SPD, sich auf die Bündnisgrünen festzulegen, nur die chimärische Vorstellung wider, unter verschiedenen Optionen wählen zu können. Die stehende Rede, nach der Wahl mit demjenigen ein Bündnis eingehen zu wollen, mit dem ein Maximum der angestrebten Reformen zu verwirklichen sei, konnte ernsthaft nur auf die Bündnisgrünen bezogen sein. Als mögliche Formel für einen Einstieg in die „Große Koalition“ als Juniorpartner wäre sie nur noch von (abschreckender) Komik.
Mit Rudolf Scharpings Kür wird in Halle ein starrer, geradewegs in die Niederlage führender Kurs festgelegt. Für eine den Traditionen der Aufklärung verpflichtete Partei ein bemerkenswerter Akt des Irrationalismus. Rational hingegen, streng nach den Prinzipien des rational choice werden sich diejenigen Wähler verhalten, die sich, weil sie nicht herausgefordert, nicht mit einem Gegenprojekt der ökologisch- sozialen Entwicklung konfrontiert wurden, ans Wohlbekannte halten – und mag der künftige Schaden für die Gesellschaft noch so groß sein. Christian Semler
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