■ Scharpings Rede auf dem Krisen-Parteitag in Halle
: Späte Offensive

Mit zwei ziemlich komplizierten Aufgaben ist Kohl-Herausforderer Rudolf Scharping zum Wahl- Krisen-Parteitag nach Halle gereist. Um seine Restchancen auf den Bonner Machtwechsel zu wahren, mußte er die wachsenden Zweifel der Genossen an seiner Strategie ausräumen und zugleich das angeschlagene Selbstvertrauen der Partei renovieren. Beides ist Scharping mit seiner Rede überraschend klar gelungen.

Seine entschiedene Absage an eine rot-grüne Koalitionsaussage jedenfalls wurde von den Delegierten in einer Weise bejubelt, daß relevante Kritik für die kommenden Monate kaum mehr zu erwarten steht. Ohnehin war die Koalitionsdebatte der vergangenen Wochen nur der plakative Ausdruck des Unbehagens, da propagiere einer den Machtwechsel, ohne die intendierte politische Richtungsänderung kenntlich zu machen: Kontinuität der Politik mit anderem Personal. Mit seiner Rede hat Scharping diesen Eindruck erstmals deutlich konterkariert. So viel jedenfalls wie in Halle hat man ihn noch auf keinem Parteitag von Reformpolitik und Ökologie als gleichberechtigten SPD-Themen reden hören. Wenn der Kandidat bislang die Grünen zum politischen Konkurrenten und nicht schon zum künftigen Partner erklärte, klang das so, als erschienen ihm deren Inhalte schlicht überflüssig. Diesmal verschob Scharping ostentativ die Akzente. Er beginnt die „grünen“ Themen für sich zu reklamieren und hält damit die wahltaktische Distanz aufrecht. Die Konkurrenz zu den Grünen als inhaltliche Annäherung.

Die sanfte Wiederentdeckung der SPD als Reformpartei freilich geriet zum Balanceakt. Noch ein Stück demonstrativer – und Scharping wäre unter Opportunismusverdacht geraten; ein Stück weniger – und an seinem Profil als sozialdemokratischem Kontinuitätsapostel wäre nicht mehr zu deuteln gewesen. Diese Probe auf seinen politischen Stil hat Scharping auf dem Parteitag ebenso bestanden wie die erste Herausforderung an sein politisches Stehvermögen. Zumindest vor den Delegierten gelang es Scharping, die Kette von Fehlern und Niederlagen der vergangenen Wochen vergessen zu machen. Massiv unterstützt vom sozialdemokratischen Hang zur Selbstermutigung, sprang Scharpings offensiver Funke.

Doch wie weit springt er? Im vergangenen November, als Scharping in Wiesbaden den Genossen seine entkernte Programmatik aufzwang, standen die Prognosen auf Wechsel – ohne politische Veränderung. Jetzt, wo der Wechsel wieder in die Ferne rückt, beginnt der Kandidat seine Alternative zu propagieren. Wieder ein Zuspätgekommener? Die Probe auf die Hallenser Offensive jedenfalls kommt schnell, am Sonntag in Sachsen-Anhalt. Matthias Geis