Tschernobyl bleibt im Wahlkampf ausgespart

■ Iwan A. Kenik, Tschernobyl-Minister der Republik Belarus, zu den wirtschaftlichen Auswirkungen des GAUs in Weißrußland und deren Bedeutung für den Wahlkampf

taz: Herr Minister, welche Rolle spielt die Tschernobyl-Katastrophe und ihre Bewältigung im Präsidentschaftswahlkampf ihres Landes?

Iwan Kenik: Zum Glück hat keiner der Kandidaten die schlimme Situation in spekulativer Absicht für sich ausgenutzt. Auch nicht in den verstrahlten Gebieten.

Warum zum Glück? Der Supergau macht die Leute krank, belastet den Staatshaushalt und die wirtschaftlichen Perspektiven. Will die Bevölkerung von den Kandidaten nicht wissen, wie es weitergehen soll?

Unsere Bevölkerung versteht sehr wohl, was das Unglück immer noch für das Land bedeutet. Eine 18prozentige Tschernobyl-Steuer, mit der wir alle Unternehmen zusätzlich belasten müssen, hat zum Beispiel niemals zu Unmutsäußerungen oder Protesten geführt, obwohl sie das Wirtschaften noch schwieriger macht, als es ohnehin schon ist. Das Unglück ist dem Volk gemeinsam auferlegt. Die Menschen sind sich dessen bewußt.

Also keine Polarisierung der Präsidentschaftskandidaten an diesem Thema?

Nein. Die meisten Bewerber haben sich bemüht, dieser Frage im Wahlkampf aus dem Weg zu gehen. Das wichtigste Thema ist die wirtschaftliche Entwicklung.

Mit welchen Gefühlen beobachten Sie in Belarus, daß die Atomzentrale Tschernobyl in der Ukraine immer noch weiterläuft?

Mein Land hat mehrfach offiziell an den ukrainischen Präsidenten Krawtschuk und das Parlament in Kiew appelliert, die Entscheidung über den Weiterbetrieb beziehungsweise die Wiederinebtriebnahme der Reaktoren rückgängig zu machen. Auf unsere Bitte an das Parlament haben wir leider überhaupt keine Antwort bekommen. Krawtschuk bat um Verständnis dafür, daß eine andere Lösung wegen der aktuellen Wirtschaftslage in der Ukraine nicht möglich ist.

Belarus betreibt selbst keine Atomkraftwerke, hat aber von allen Ländern am meisten unter den Folgen des Unfalls zu leiden. Werden Sie aus der ehemaligen Sowjetunion unterstützt?

Rußland ist das einzige Land der früheren UdSSR, das uns wirtschaftlich unterstützt. In diesem Jahr will Präsident Jelzin die Zahlungen auf 40 Milliarden Rubel erhöhen.

82 Prozent der humanitären Westhilfe für Ihr Land wird von privaten, meist ehrenamtlich arbeitenden Gruppen und Einzelpersonen zusammengekratzt, nur 18 Prozent tragen die Staaten bei. Ist die Bevölkerung im Westen sensibler für Ihre Probleme, als es die Regierungen sind?

Es ist tatsächlich so, daß erst jetzt, nach acht Jahren, zum Beispiel mit der deutschen Bundesregierung ein Kooperationsabkommen über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Tschernobyl- Folgen zustande gekommen ist. Glücklicherweise haben einzelne deutsche Landesregierungen mehr Humanität an den Tag gelegt und uns wesentlich unterstützt, vor allem Hessen und Niedersachsen. Aber es stimmt, daß die gesellschaftlichen Organisationen und Einzelpersonen erheblich mehr leisten.

Auch bei Ihnen in Belarus gibt es trotz allem immer wieder Debatten, ob die Probleme der Energieversorgung nicht am besten mit Atomkraftwerken zu bewältigen sind. Hat eine Partei oder ein Präsidentschaftsbewerber eine Chance, gewählt zu werden, wenn er so etwas vertritt?

Nein. Deshalb wird das Thema in den Ansprachen der Bewerber systematisch ausgespart. Ohne ein umfassendes Referendum wäre auch in Zukunft kein Präsident allein in der Lage, eine Entscheidung für den Bau von Atomreaktoren zu fällen. Es gibt keinen denkbaren Standort, an dem das nicht massive Proteste auslösen würde.

Wie, denken Sie, würde ein landesweites Referendum über diese Frage ausgehen?

Natürlich gegen die Kernenergie, das ist keine Frage. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig: Wir werden uns nach nichtnuklearen, alternativen Energiequellen umsehen müssen.

Interview: Gerd Rosenkranz