„Jetzt ist wieder alles offen“

■ Rudolf Scharpings Rede weckt die Genossinnen und Genossen und macht ihnen wieder Hoffnung für den Bundestagswahlkampf / Begeisterte Reaktionen

War das eine müde Veranstaltung. Kaum einer mochte konzentriert hinhören, was SPD-Partei- Vize Wolfgang Thierse, Sachsen- Anhalts Spitzenkandidat Reinhard Höppner oder die norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland zu sagen hatten. Alle mußten sie gegen einen Brei aus Gemurmel und Geraschel ankämpfen. Der Applaus war höflich, mehr nicht, die trübe Stimmung entsprach der tristen fensterlosen Architektur der Hallenser Eissporthalle.

Und dann kam Rudolf Scharping. Hoffnung kann Berge versetzen, heißt es. Der Kanzlerkandidat dürfte sich am Rednerpult so einsam vorgekommen sein wie Reinhold Messner beim Erklimmen eines Achttausenders. Und er ist ohne Schaden oben angekommen. Die Entscheidungen über das Parteiprogramm wurden bereits im Vorfeld gefällt, und so fiel dem Kanzlerkandidat die Rolle zu, der Partei und dem Wahlvolk klarzumachen, wo es hingeht. „Das war die Rede, die ich erwartet habe“, war die deutlich untertriebene Reaktion von Hans-Joachim Vogel, gescheiteter Kanzlerkandidat von 1983. „Das war der Scharping, wie ich ihn kenne. Einer, der sich nicht umwerfen läßt und den Ton der Partei zu sprechen versteht.“

Nicht nur Vogel sieht jetzt wieder berechtigte Hoffnung für einen Sieg der Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl. Da hätten sich andere „wohl etwas zu früh gefreut“. Und auch in Bayern scheint der Zug noch nicht abgefahren: „Renate Schmidt macht nicht den Eindruck, als ob sie resigniert hätte.“ Die deutlichen Spitzen von Scharping gegen den niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder bezeichnet Vogel als „notwendige Klarstellungen“. Das sieht die Basis nicht anders. „Die Spitzen gegen Schröder fand ich gut“, meint Eva-Maria Fabisch- Uthe aus Würzburg. Es ist „ein Scheißspiel, wenn die führenden Genossen übereinander reden, statt miteinander“.

Für Ulrich Maurer, den zu Scharpings Team zählenden SPD- Landesvorsitzenden aus Baden- Württemberg, hat der Kandidat die Erwarungen sogar „übererfüllt“. „Scharping hat große Führungsstärke dargestellt – nach innen und nach außen.“ Die Begeisterung der Delegierten, die nach der kämpferischen Rede ihres Vorsitzenden in minutenlange „Jetzt-geht's-los“-Rhythmen fallen, gibt ihm Recht.

Und auch die ostdeutschen GenossInnen sehen nun wieder Land in Sicht. „Ich fühle mich jetzt deutlich wohler als vorher“, gibt ein strahlender Lutz Trümper, Magdeburger Parteichef, zu Protokoll. Der Kandidat habe „sich deutlich gesteigert, der Trend ist noch zu kippen“. Man habe vor der Landtagswahl am kommenden Sonntag in Sachsen-Anhalt Fehler gemacht, und insbesondere habe die PDS der SPD politische Felder abgenommen. Doch jetzt, übt sich der Magdeburger in Zweckoptimismus, „ist alles wieder offen“.

Auch Edda Conteniur, Parteirätin aus Hannover, ist ein Stein vom Herzen gefallen. „Wenn Scharping das, was er heute an Stimmung vermittelt hat, über den Parteitag hinaustragen kann, wird ein neuer Mobilisierungschub in der Partei einsetzen – und den brauchen wir dringend.“ Selbst an dem Parteiprogramm, über dessen ersten Entwurf sie wie viele GenossInnen nicht glücklich war, gibt es nichts mehr zu deuteln. „Wenn wir die Wertediskussion und die gesellschaftlich relevanten Themen besetzen und uns nicht abdrängen lassen, haben wir die besten Chancen, im Herbst Kohl abzuwählen.“

„Es ist Scharping gelungen, die Partei wieder hochzureißen“, glaubt Dieter Bergmann, ein Abgeordnetenmitarbeiter aus dem westlichen Westfalen, „jetzt geht es darum, klarzumachen, daß diese Regierung weg muß“. Doch dafür genügt es nicht, nur auf Vertrauen in den Kandidaten zu setzen.

„Scharping hat genau die Punkte getroffen, die wichtig sind“, findet Gernot Grumbach, stellvertretender Bezirksvorsitzender in Hessen-Süd. „Kein Mensch wählt eine Regierung ab, ohne zu sehen, wo die Alternativen sind. Ob Arbeitsplätze, soziale Gerechtigkeit oder ökologischer Umbau – da gibt es doch deutliche Unterschiede zu der konservativen Regierung.“ Wie es die Sozialdemokraten am Ende mit der Koalitionsfrage halten dürften, scheint für Grumbach auch klar zu sein: „Daß man bei den Themen mit CDU und FDP wenig am Hut haben kann, ist doch offensichtlich.“

Herbert Tausch hat ganz andere Sorgen. Der 66jährige Rentner aus Halle ist ins Eissportstadion gekommen, um Rudolf Scharping reden zu hören. Er hofft, daß die Renten so bleiben und die Mieten nicht weiter steigen, daß „man alles noch ertragen kann“. An Scharping gefällt dem früheren Reichsbahner, der kein Parteigänger ist, vor allem dessen Sachlichkeit und Bescheidenheit. „Sein Auftreten überzeugt mich, er haut nicht so auf die Pauke wie die anderen.“ Dabei war der Kandidat heute viel lauter als sonst. Erwin Single,

Klaus Hillenbrand aus Halle