Ist der Langzeitstudent nur ein Mythos?

■ FU-Professoren gingen dem Vorurteil nach und stellten Überraschendes fest

Hat Deutschland zu viele Langzeitstudenten? Etwa 20 bis 30 Prozent sind, je nach Fachrichtung, im 14. oder einem höheren Semester eingeschrieben. An der Freien Universität beispielsweise hatte von den 60.000 Studenten im Wintersemester 1991/92 jeder vierte bereits über 14 Fachsemester hinter sich. Bummelstudenten haben, so das gängige Vorurteil, ihre Hochschule zu einem vorgezogenen Altersheim für Akademiker umfunktioniert und nehmen dazu die finanziellen Vorteile für Studenten mit.

Die Antwort der Politiker: Mit der Reduzierung der Zahl der „ergrauten Studenten“ könnten Dozenten und Etat entlastet und die noch überfüllten Seminare wieder besuchbar gemacht werden. Mit Regelstudienzeiten, Androhung von progressiv steigenden Semestergebühren und – als letztes Mittel – Exmatrikulation sollen die Studenten wieder schneller durchs Studium gedrückt werden.

„Wie die Situation der Langzeitstudenten wirklich aussieht, ist kaum bekannt“, kritisiert hingegen der für seine ungewöhnlichen Ideen bekannte Politologe Peter Grottian von der FU. Zusammen mit 32 Kollegen lud er die 722 Langzeit-Studierenden des Otto- Suhr-Instituts der FU zum Gespräch, von denen genau die Hälfte tatsächlich erschienen. Das Ergebnis ist überraschend. Die Hälfte der Befragten steckt in den Abschlußprüfungen oder hat sie schon hinter sich, hat sich aber noch nicht exmatrikuliert. Weiteren 18 Prozent der Langzeitler fehlten nur noch ein bis zwei Scheine, um sich zum Examen anzumelden. „Die öffentlichen Statistiken sind irreführend“, sagt Grottian. Umgerechnet auf die Gesamtstudentenzahl reduziere sich der Anteil der Bummelanten auf allenfalls zehn Prozent, „eine wahrlich undramatische Zahl“. Anders gewendet: Fast 70 Prozent der Langzeitstudierenden sind keine echten Problemfälle. Es ist der kleine Rest, der den „Mythos Langzeitstudent“ prägt.

In Berlin ist die Situation besonders zugespitzt. Mit einer Änderung des Hochschulgesetzes wurden die Hochschulen kürzlich verpflichtet, Langzeitstudenten zur einer „Beratung“ zu bitten, wenn diese mehr als zwei Semester hinter der Regelstudienzeit hinterherhinken. Ein Teil der Studenten mißversteht das Anliegen des Senators und bekämpft die „Zwangsberatung“ heftig. Sie argumentieren, 60 Prozent müßten nebenbei ihren Lebensunterhalt mit Jobs finanzieren und könnten eben nicht schneller. Die Grottian-Studie entlarvt auch diese Ansicht als Vorurteil. Nur zehn Prozent der Befragten waren beruflich wirklich eingespannt, beispielsweise als Geschäftsführer eines Bio-Ladens oder als Mitarbeiter des japanischen Fernsehens.

Weitere 18 Prozent steckten in belastenden Arbeits- und Lebenssituationen. Diese Gruppe bräuchte professionelle Hilfe bis hin zu finanzieller Unterstützung, ein Beratungsgespräch reiche hier nicht aus. Das betreffe vor allem alleinerziehende Mütter, die mit Job, Erziehung und Studium überlastet seien. Gerald Mackenthun (dpa)