: Strohdumm -betr.: "Nur noch einer von vielen", taz vom 15.6.94
Betr.: „Nur noch einer von vielen“, 15.6.94
Kein Mensch kommt auf die Idee, die Ampelanlagen an den Straßenkreuzungen zu „privatisieren“. An der letzten Kreuzung des Lebens jedoch, wo pflegebedürftige Menschen auf humane Betreuung und solidarische Hilfe angewiesen sind, da soll der „freie“ Markt über das Wohl und Wehe regieren?
Der Wettbewerb um die beste Leistung in der Pflege ist vernünftig. Aber „Wettbewerb“ ums Geld, durch den die Pflegeanbieter sich gegenseitig in den Ruin treiben? „Wettbewerb“ um die Pflegebedürftigen, die dem Treiben bloß ohnmächtig zuschauen können? „Wettbewerb“ gegen die ArbeitnehmerInnen, für deren heute schon geringen Lohn im Hafen oder Handwerk keiner etwas anpacken würde? Das sind strohdumme Vorstellungen!
Die Hamburger Sozialstationen sind vorbildlich in ihrer Qualität und Quantität. Sie sind das Rückrad der ambulanten Pflege: sie müssen pflegen und sie sichern die Qualitätsstandards. (...)
Seit Jahren ist ein Hamburger Sozialstationsgesetz in der Diskussion. Das soll in der häuslichen Pflege die Strukturen für die Zukunftsentwicklungen schaffen. Ohne dieses Gesetz wird das Hamburger Vorbild den Bach runtergehen. Wenn die Betroffenen jetzt mit Schlagworten gegeneinander arbeiten oder die Entwicklung verschlafen, dann dürfen sie eines Tages stolz sagen: „Ich bin dabei gewesen, als es noch eine Zukunft für die häusliche Pflege gab!“
Mit der drohenden Auflösung der Sozialstationen wird in den Hamburger Stadtteilen der Kristallisationspunkt für die Beratung, Unterstützung und Pflege alter, kranker oder behinderter Menschen zerstört. Eine weitere Auf-slitterung und Auszehrung des Lebens in den Quartieren ist die Folge. Und die Stadt zieht sich eine neue Etappe aus ihrer sozialen Verantwortung zurück.
Die anstehenden Fragen können nicht zwischen Fachbehörde, Krankenkassen, Wohlfahrtsverbänden und Privatunternehmern hinter verschlossenen Türen verhandelt werden. Denn bei ihrer Beantwortung geht es um die Substanz des sozialen Selbstverständnisses in unserer Stadt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen