Schmeckt wie Hund

■ Sülze-Skandal: Verrottete Zutaten bescherten Hamburg vor 75 Jahren fast einen Bürgerkrieg Von Kay Dohnke

Am Anfang stand ein widerwärtiger Gestank. Der stach einem Hamburger Arbeiterrat am Morgen des 23. Juni 1919 in die Nase, als er durch die Kleine Reichenstraße ging. Vor dem Geschäft des Sülzeherstellers Jacob Heil luden Arbeiter gerade eine Tonne mit Tierkadavern ab – angeblich Dünger, wie der herbeieilende Inhaber wortreich beteuerte. Ein Blick in die Fabrikationsräume enthüllte die eklige Wahrheit: Verrottetes Fleisch, Abfälle und sogar ein toter Hund lagen im Zubereitungsbottich für die „Sülze von großem Nährwert und delikatem Geschmack“.

Die Nachricht verbreitete sich schnell. Immer mehr Passanten liefen vor dem Geschäft zusammen, und die verstanden in Sachen Lebensmittel nur wenig Spaß. Ein halbes Jahr nach Kriegsende war Hunger noch an der Tagesordnung, und Sägespäne im Brot kannte man ja schon – aber Kadaver in der Sülze? „Freie Bahn dem Tüchtigen“, lautete Heils Motto. Nur die Verhaftung durch die Polizei rettete den wackeren Kommerzienrat vor dem Volkszorn - vorübergehend: Auf Höhe der Reesendammbrücke stoppten wütende Hamburger den Transport und warfen Heil in die Alster.

Hinweise auf Mißstände hatte es zahlreich gegeben, doch stets ohne Folgen. Nun schauten die HamburgerInnen den Sülzekochern selbst auf die Finger: Auch bei den Firmen Starck & Co. und Panier entdeckten sie skandalöse Verhältnisse, führten Meister und Vorarbeiterinnen auf Karren zum Rathaus und schütteten voller Wut über die untätigen Behörden ihre ekligen Funde auf den Jungfernstieg. Da der Verdacht auf Mitwisserschaft nahelag, stürmten ein paar Unverdrossene das Kriegsversorgungsamt und holten Regierungsrat Lippmann, „um den sich schützend ein paar Schreibmaschinenfräuleins geschart hatten“, heraus zu Prügel und öffentlicher Anklage. Nur knapp entging er der Lynchjustiz.

Die Folgen des Sülze-Skandals wuchsen sich rasch zu Unruhen aus: Als vor dem Rathaus erste Schüsse fielen, ließ Stadtkommandant Lamp'l die verhaßte „Bahrenfelder freiwillige Wachabteilung“ aufmarschieren, eine arbeiterfeindliche Bürgerwehr. Im ersten Gefecht um den belagerten Amtssitz starben zwölf Menschen. Aus Waffenläden und einer überrumpelten Polizeiwache kamen die Gewehre, mit denen noch bis tief in die Nacht das Rathaus beschossen wurde - einige Hamburger fanden nicht nur die Sülze zum Kotzen, sondern auch die Herrschaftsverhältnisse.

Die Bahrenfelder fuhren Minenwerfer auf, konnten aber in der nächsten Nacht die Erstürmung nicht mehr verhindern. Überall in Hamburgs Straßen fielen Schüsse, es gab Plünderungen und Einbrüche. Bei der Eroberung des Stadthauses fanden die Aufständischen weitere Waffen, im Strafjustizgebäude ließen sie die Gefangenen frei und knackten die Justizkasse.

Am Morgen des 25. Juni verhängte Lamp'l den Ausnahmezustand. Nachts herrschte in Hamburg nun Ausgangssperre, die Einwohnerwehr wurde zum Schutz gegen Plünderer einberufen, und seine Untergebenen forderte Lamp'l auf: „Beamte, schützt die Staatsgebäude gegen unverantwortliche Putschisten!“ Auch die Vertreter der Hamburger Arbeiterschaft ergriffen Maßnahmen zur Befriedung der Stadt. Entwaffnungskomitees sollten die einzelnen Bezirke durchsuchen und Gewehre, Pistolen, Granaten einsammeln.

Am Freitag, den 28. Juni, schließlich – in der Innenstadt gab es keine heilen Schaufenster mehr – beruhigte sich die Lage. Doch da hatte die Regierung in Berlin schon „Reichsexekution“ gegen Hamburg verhängt und Truppen in Marsch gesetzt. Der Senat erließ noch einen hilflosen Aufruf an die Männer und Frauen Hamburgs: „Um Eurer und Eurer Kinder Willen ruft Euch der Senat in dieser ernsten Stunde zu: Bewahrt Ruhe und Einsicht! Steht treu zu Eurer Vaterstadt!“ In den Leichenhallen lagen 62 Tote, mehr als 120 Verwundete in den Hospitälern, und im Hamburger Echo ließ die Firma Delfs mitteilen, daß ihre Schmorwürze „Schmorogan 41“ aus garantiert reinen Zutaten bestünde.

Abends erreichten bereits erste Reichswehrabteilungen die Stadt. Anfangs gelang es noch, einzelne Soldaten zur Hergabe ihrer Gewehre zu überreden, denn sie sahen nur besonnene und unbewaffnete Bürger. Doch die 10.000 Reichswehrsoldaten standen unter dem Kommando von General v. Lettow-Vorbeck. Unterstützt durch Freikorps marschierte nun jener Mann in die Hansestadt ein, der bereits in Südwestafrika die Aufstände von Hereros und Hottentotten blutig erstickt hatte – mit den wildgewordenen Proletariern an der Elbe würde er schon fertig werden. Das rauhe Fazit des Sülze-Skandals: Die Neuordnung der Hamburger Polizei durch Lettow-Vorbeck, willkürliche Durchsuchungen von Arbeiterwohnungen, Festnahmen und Schnellgerichte trug zum Abbau der letzten Errungenschaften der Novemberrevolution von 1918 bei.