Die Notbremse im Namen Gottes

■ In Bremen bieten Kirchengemeinden in Grohn und Walle Flüchtlingen, denen die Abschiebung droht, Zuflucht im „Kirchenasyl“

„Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“. Wenn Pastor Friedrich Scherrer von der evangelischen Immanuel-Gemeinde in Walle das Bibelzitat anbringt, dann weiß er, wovon er redet. Denn der Protestant gehorcht seinem Gewissen – und bricht dafür das Gesetz. In den Räumen der Kirche gewähren die ChristInnen aus den Gemeinden Immanuel und Stephani, unterstützt von KatholikInnen der Mariengemeinde, seit April einer Familie aus Zaire Unterschlupf gegen die drohende Abschiebung – im „Kirchenasyl“.

Damit stehen sie nicht allein. Auch die katholische Kirche „Zur Heiligen Familie“ in Bremen-Grohn beherbergt Flüchtlinge, die – ginge es nach Recht und Gesetz –schon längst abgeschoben sein müßten. Bremen liegt im Trend: Seit der „Asylkompromiß“ vor einem Jahr geschlossen wurde und der Wind Flüchtlingen in ganz Europa hart ins Gesicht bläst, haben im ganzen Bundesgebiet evangelische und katholische Kirchengemeinden Menschen aufgenommen, um sie vor der drohenden Abschiebung zu bewahren. Unterstützt von ihren Bischöfen und Kirchenleitungen wollen sich die Gemeinden vor die Flüchtlinge stellen, denen bei ihrer Rückkehr ins Heimatland Folter oder Tod droht und die trotzdem in Deutschland kein Asyl bekommen. Angefeindet von einer Regierungspartei, die das „christlich“ im Namen führt und die Anarchie in Form von „rechtsfreien Zonen“ in den Kirchen heraufziehen sieht, weisen die ChristInnen auf ihre Motivation hin: Nicht ein Sonderrecht zu reklamieren, sondern die Mühlen der Abschiebebürokratie kurzfristig anzuhalten und in einer Atempause noch einmal das Urteil zu überprüfen.

So wie im Fall der Familie Hanna in Grohn. Gabi Hanna, der Vater von drei kleinen Kindern, geriet als Syrer zwischen die Fronten des libanesischen Bürgerkriegs. Christliche Milizen zwangen ihn, auf ihrer Seite zu kämpfen, bei seiner Rückkehr verweigerte ihm der syrische Geheimdienst deshalb die Arbeitserlaubnis. Aus Verzweiflung verpflichtete sich der Mann, für den Geheimdienst zu arbeiten. Als er seine Spitzeldienste immer mehr ausweiten sollte, sah er einen Ausweg nur in der Flucht nach Deutschland. Hier wurde sein Asylantrag mit der in Flüchtlingsfragen üblichen Spitzfindigkeit abgelehnt: Zwar habe Hanna wohl bei einer Rückkehr mit Repressalien zu rechnen, doch die folgten nur daraus, daß er nicht mehr mit dem Geheimdienst kooperieren wolle: Das sei keine politische Verfolgung. Familie Hanna, seit sechs Jahren in Bremen und gut in der Nachbarschaft eingelebt, stand vor der Abschiebung. Da öffnete die katholische Gemeinde ihre Pforten und bot der fünfköpfigen Familie Unterschlupf in Gemeinderäumen. Inzwischen ist auch ein Asylfolgeantrag abgelehnt worden: Die Abschiebung ist damit tagtäglich vollstreckbar.

In der gleichen Lage befindet sich die Familie Soki aus Zaire, die in der Immanuel-Gemeinde untergekommen ist. Entgegen den Einschätzungen des Auswärtigen Amtes, auf die sich auch das Zirndorfer „Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge“ beruft, herrscht in dem zentralafrikanischen Land nach Berichten von Kirchen und Menschenrechtsorganisationen „Anarchie und Staatsterrorismus“. Diktator Mobutu hat zwar nominell eine Opposition zugelassen, geht aber mit allen militärischen Mitteln gegen sie vor: Plünderungen, Folter, Entführungen und Morde sind an der Tagesordnung, laut „amnesty international“ genügt bereits der bloße Verdacht, ein Gegner des Präsidenten zu sein, für eine Verhaftung. Longo Soki, der Vater der fünfköpfigen Familie, nahm an einer Demonstration gegen das Regime teil, die vom Militär gewaltsam aufgelöst wurde. Dabei starben 37 Menschen, Soki wurde zur Zwangsarbeit verpflichtet. Er konnte fliehen und kam nach Bremen, doch fand bei der Behörde kein Gehör. Die 5.Kammer des Verwaltungsgerichts, wo sein Einspruch behandelt wurde, lehnt nach Auskunft von Sokis Anwalt mit „rassistischen und demütigenden“ Äußerungen die Asylbegehren von Bürgern Zaires rundweg ab – mit der immer gleichen Begründung, es „fehle an Glaubwürdigkeit“ bei der Schilderung von Flucht und Fluchtursachen. Auch Sokis Asylfolgeantrag ist abgelehnt worden – seit Mittwoch ist die Abschiebung auch für ihn und seine Familie jeden Tag möglich. Und das, obwohl laut ai-Bericht bereits die Tatsache, in Deutschland einen Asylantrag gestellt zu haben, in Zaire ein Grund für Verfolgung sein kann.

Die Familien Hanna und Soki sind typische Fälle für die Gewährung von Kirchenasyl: Asylanträge abgelehnt, Ausweisung angedroht, das Ende der juristischen Fahnenstange ist erreicht, Kontakte zu Behörden bewirken nichts mehr. Da ziehen die Gemeinden mit einer Mischung aus sozialer, moralischer und theologischer Begründung die Notbremse, um zu verhindern, daß die Flüchtlinge ans Messer geliefert werden. „Es ist eine christliche Tradition, den Fremden in Not zu helfen“, sagt Pastor Scherrer. „Irreperable Schäden“ für die Kinder der Familie Hanna befürchten ihre UnterstützerInnen bei einer Rücckehr, weil die Mädchen nach der Flucht aus Syrien völlig verstummt und nicht ansprechbar waren. Der Anwalt der Sokis, Arnim von Döllen, ist ratlos: „Die gelten als Regimegegner und können nirgends untertauchen. Man kann doch eine fünfköpfige Familie nicht in diese Situation nach Zaire zurückschicken.“

„Man kann“, meint dagegen Merve Pagenhardt von der Bremer Innenbehörde, wenn auch mit Bedauern. Denn das Gesetz ist eindeutig: Wenn der Weg durch die Bundesbehörde und die Klage bei den Bremer Gerichten ausgeschöpft sind, dann ist die Bremer Polizei verpflichtet, die Abschiebungen gemäß Ausländergesetz durchzuführen: „Wir können einen Rechtsbruch durch die Kirchen nicht akzeptieren“. Zwar hat Innensenator Friedrich van Nispen der Gemeinde in Grohn zugesagt, es werde nicht zu einem Polizeieinsatz „mit einer Hundertschaft“ in der Kirche kommen, aber sicher ist die syrische Familie deshalb noch lange nicht. „Wenn die sich außerhalb des Kirchengeländes bewegen und ein Polizist sieht das oder er bekommt einen Tip, dann kann er das nicht ignorieren. Dann muß er sie verhaften.“ Für die Sokis dagegen gibt es nicht einmal die Zusage eines solch vagen Schutzes.

Rechtlich gesehen gäbe es für einen Polizeieinsatz in Gemeinderäumen oder auch in einer Kirche keinen Hinderungsgrund. Das Kirchenasyl existiert in Deutschland nicht mehr (siehe Kasten). Doch die Gemeinden setzen darauf, daß die Behörden Bilder von Polizisten scheuen, die eine Kirche stürmen, um friedliche Flüchtlinge herauszuholen. Und sie setzen auf Verhandlungen, die dann mit den Behörden über Einzelfallregelungen geführt werden. Der Erfolg gibt ihnen recht: Nach Angaben der unabhängigen Kirchenzeitschrift „Publik-Forum“ haben Gemeinden, die „Flüchtlingen Kirchenasyl gewähren, überwiegend Erfolg – Behörden ließen sich umstimmen, Petitionen hatten Erfolg, Abschiebehindernisse oder Verfahrensfehler konnten erfolgreich geltend gemacht werden.“ Insgesamt haben nach diesen Angaben in den letzten acht Jahren etwa 1900 Menschen in Deutschland Kirchenasyl gefunden, mehr als 200 Gemeinden in ganz Deutschland sind bereit, Flüchtlinge, denen „zu Unrecht die Abschiebung droht“, bei sich aufzunehmen. Für „Publik-Forum“ hat Kirchenasyl auch eine starke theologische Komponente: „Mit dem offenen Kirchenasyl siganlisieren die Christen: Die Menschenwürde dieser Flüchtlinge ist uns so heilig wie das Gotteshaus, in dem die Flüchtlinge unterkommen. Das Aufbrechen des Asyls in der Kirche wird in die Nähe des Sakrilegs gerückt.“

Doch die Gemeinden nehmen auch ein gewisses Risiko auf sich: Denn laut Ausländergesetz macht sich strafbar, wer einem Flüchtling dabei hilft, sich der Abschiebung zu entziehen. Allerdings gibt es zwei Bedingungen für die Strafbarkeit: Die HelferInnen müssen dem Flüchtling helfen, Geld zu verdienen und es bei „mehr als fünf Personen“ tun. Schwerer wiegen für die Gemeinden andere Probleme: Wegen des Asyls kommt es in manchen Gemeinden zum Streit: Konservative Christen drohen mit Kirchenaustritt. Und schließlich müssen Flüchtlinge in der Kirche von der Gemeinde versorgt werden, weil sie nach dem Ausweisungsbeschluß aus der Sozialhilfe herausfallen: 1600 Mark monatlich rechnet Pastor Scherrer für die Verpflegung der fünfköpfigen Familie Soki in seiner Gemeinde.

Politisch ist Kirchenasyl in Bremen kaum ein Thema. Die Innenbehörde verweist auf die Entscheidung des Bundes und der Gerichte und klammert sich an das „Legalitätsprinzip“. Für Helga Trüpel, Senatorin für Ausländerintegration, ist die Situation, die zum Kirchenasyl führt, ein Armutszeugnis für deutsche Flüchtlingspolitik: „Unklare Abschieberegelungen, ein fehlendes Einwanderungsrecht und eine undifferenzierte Abschiebepraxis haben zu einer Zunahme der Zuflucht von Flüchtlingen in Kirchengemeinden geführt.“ Bei der Durchsetzung des neuen Asylrechts bleibe der Einzelfall häufig auf der Strecke. „Kirchenasyl ist kein wünschenswerter Zustand“, sagt Trüpel, „weil er zwar vorübergehend Schutz, aber keine Rechtssicherheit, kein faires Verfahren garantiert. Die Perspektiven der Flüchtlinge in unseren Kirchen bleiben unklar.“

Das sehen die HelferInnen der Flüchtlinge auch. „Dahinter steht ja keine große Strategie, sondern es ist einfach Notwehr, weil die Menschen sonst abgeschoben werden“, sagt Rechtsanwalt von Döllen. Ulrike May-Bouhaddi vom Diakonischen Werk, die eine Kirchengemeinde in Altluneberg bei Bremerhaven beim Kirchenasyl für eine zairische Frau mit ihrem einjährigen Kind betreut hat, plädiert für ein offenes Asyl: „Man kann die Menschen nicht auf Dauer verstecken, denn sie kriegen keine Sozialhilfe und keine Krankenversicherung. Viele haben Kinder, die müssen zur Schule. Das hält ja auch niemand aus, auf Dauer eingesperrt zu sein.“ Es bleibt bei den HelferInnen die Hoffnung, daß sich in der Zeit politisch etwas bewegen läßt und daß es Einzelfallregelungen geben kann.

„Die humanitäre Einzelfallregelung ist uns verwehrt“, sagt dagegen Merve Pagenhardt von der Innenbehörde. „Die ist mit der Neufassung des Ausländergesetzes 1990 abgeschafft worden.“ Für Bremen gebe es also in diesen Fällen keinen Handlungsspielraum. Das sehen die Flüchtlingsgruppen anders: Ein Gutachten aus Hessen beweise, daß die Länder sich sehr wohl zum Alleingang entschließen könnten. Und immerhin bleibt auch für Bremen der auf sechs Monate befristete Abschiebestop: „Das machen wir nur in Absprache mit den anderen Ländern“, sagt Pagenhardt, „Das heißt ja auch, Menschen Hoffnung zu machen, wo keine Hoffnung ist.“ Mit sechs Monaten Abschiebestop wäre den Hannas und den Sokis allerdings erst einmal geholfen.

Die Zahl von Gemeinden, die Kirchenasyl gewähren, ist im letzten Jahr in Deutschland dramatisch angestiegen. Nicht von ungefähr, meint Andreas Weber-Sordon, der sich beim Katholischen Bildungswerk um die Flüchtlingsarbeit kümmert. „Früher haben die Pfarrer in solchen Fällen ihre Beziehungen zu den Behörden spielen lassen. Das ist mit dem Asylkompromiß vorbei. Seitdem merken die Gemeindemitglieder, wie unmenschlich die Regelungen sind.“ Ein Blick auf die kirchlichen Hierarchien ergibt ein seltsames Bild: „Von oben her, vom Papst und den Kirchenleitungen, sind die strikten Asylgesetze immer kritisiert worden“, sagt Weber-Sordon – doch der politische Einsatz gegen die Gesetze war im Vergleich etwa zur Abtreibungsfrage kaum hörbar. „Jetzt zwingen die Gemeinden ihre Oberhirten dazu, das umzusetzen, was sie früher immer gepredigt haben.“ Daß die Schäflein ihre Hirten zum Jagen tragen, diese Art der Basisbewegung ist den deutschen Volkskirchen neu. Immerhin haben die meisten Bischöfe der evangelischen und der katholischen Kirche den Gemeinden den Rücken gestärkt, die Kirchenasyl anbieten. „Kommt jemand nach gewissenhafter Prüfung zu dem Ergebnis, daß er einen Menschen vor Gefahr schützen muß, hat er das Recht, sich ausnahmsweise gegen staatliche Anordnungen zu stellen.“, meinte etwa Karl Lehmann, Vorsitzender der katholischen Bischofskonferenz. Mit der politischen Arbeit will sich Lehmann allerdings die Finger nicht schmutzig machen: Den bundesweiten Zusammenschluß der 200 Asyl-Gemeinden hat die katholische Kirche „nicht offiziell begrüßt.“

Die Bremische Evangelische Kirche (BEK) hat dagegen erklärt, sie werde sich immer wieder in Einzelfällen für von der Abschiebung bedrohte Flüchtlinge einsetzen. Anders als etwa bei der Diskussion um die Nachrüstung folgen die Oberhirten beider Konfessionen ihrem Fußvolk. „Das liegt daran, daß man die Flüchtlinge sieht, daß sie direkt da sind und nicht so abstrakt wie Raketen oder atomare Bedrohung“, meint Weber-Sordon. Traditionell haben die beiden „Volkskirchen“ sehr enge Beziehungen zum Staat (Kirchensteuern, Militärseelsorger) – nun droht ein offener Konflikt über die Frage, ob ChristInnen einem höheren Gesetz als dem des Staates folgen dürfen: „Rechtsfreie Räume“ oder Straflosigkeit haben die Gemeinden für sich beim Thema Kirchenasyl allerdings nie gefordert.

Nicht wenige in den Gemeinden, aber auch in der Kirchenhierarchie und in den Behörden hoffen auf eine breite Bewegung der Solidarität mit den Flüchtlingen durch das Kirchenasyl. „Wenn man die Kirchenherren dazu kriegen könnte, ihren Einfluß in dieser Richtung in Bonn geltend zu machen, das könnte was bewirken“, meint Weber-Sordon. Auch in Behörden spricht man davon, daß eine großzügige Regelung von „Altfällen“, Menschen, die vor mehreren Jahren in Deutschland Asyl beantragt haben, durchaus geboten wäre und das Land mit der Aufnahme der etwa 200.000 Menschen nicht unzumutbar belastet würde.

Im Moment zählt allerdings immer noch der Einzelfall. Und so versuchen die HelferInnen in der Gemeinde in Grohn und in Walle, irgendeinen Weg zu finden, um die Familien Hanna und Soki zu schützen. Letzte Zuflucht für die Flüchtlinge, so überlegen die HelferInnen, könnte bei einem drohenden Polizeieinsatz die Kirche sein, in der ein Gottesdienst gefeiert wird. Auch wenn Kirchen juristisch wie Wohnungen zu behandeln sind – „Menschen aus einem Gottesdienst abzuholen, das hat die Polizei noch nie gemacht. Und wenn die Polizei kommt, dann ist eben Gottesdienst.“ Bei akut drohender Abschiebung haben Kirchengemeinden in den Niederlanden auch schon mal ohne Unterbrechung eine Woche lang Gottesdienst gefeiert. Bernhard Pötter