Castorf kommt erst gegen zwölf

Zeitenwandel im Panzerkreuzer am Rosa-Luxemburg-Platz aus kulinarisch-soziologischer Perspektive betrachtet: Seit 1962 ist Peter Brose der Kantinenkoch der Volksbühne  ■ Von Thorsten Schmitz

Geplant war ein rauschendes Fest. Und es wurde eines. Trotzdem die taz am Tag ihres 15jährigen Bestehens den Schleudersitz von Chefredakteur Michael Sontheimer aktiviert hatte. Den Geburtstag beziehungsweise den kleinen Staatsstreich im April begingen Techniker, Redakteure und Sympathisanten in Frank Castorfs Theaterfabrik, der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Und weil Revolutionen nicht satt machen, glich das „Berliner Buffet“ nach kürzester Zeit schon einem Schlachtfeld. Würste, Krustenbraten, Schweinebraten, Gulaschsuppe, Eisbeine, Buletten, Rollmöpse, und, food correctness, der ein oder andere Rohkostsalat fielen dem großen Fressen zum Opfer. Aufgetischt hatte das alles die Besatzung der Volksbühnenkantine in einer 24-Stunden-Schicht.

Früher, als Oberkoch Erich Honecker noch die Löffel in den Händen hielt, wäre dieses außerplanmäßige Schwelgen in Fleisch nicht vorstellbar gewesen, geschweige denn machbar. Damals mußte der Speiseplan der Volksbühnenkantine ein Jahr im voraus geschrieben sein. Bis aufs Pfund genau gab Peter Brose, 53, Jahr für Jahr an, wie viele Schweinebraten durchschnittlich pro Tag gegessen und wie viele Kartoffeln als Sättigungsbeilage dazu gereicht wurden. Nur beim Gemüse hatte sich eine gewisse Laxheit eingeschlichen, da nahm man es nicht so genau: „Denn es gab ja eh keins.“

Peter Brose kam 1962 als Koch in die Kantine der Volksbühne, eine im Hinterhof und im Souterrain gelegene Kaschemme. Die Wende hat dem Ruheraum und Zuhause, der Stammkneipe und Seelentrösterin der Theatermacher einen bunten Speiseplan gebracht, aber das Interieur ist so ziemlich gleich geblieben. Morgens leuchtet für ein paar Minuten die Sonne in den tiefbraun getäfelten Kantinenraum – wenn sie denn scheint. Ansonsten brennt immer Licht, bei Premierenfeiern manchmal bis früh um acht. An runden, zeitlos aktuellen Tischen sitzen Techniker und Schauspieler, Intendanz und bisweilen Obdachlose. Die „ganze Anordnung“ mißfällt Peter Brose, am liebsten hätte er einen Tapeten- und Möbelwechsel, das heißt: „Mal was Neues“. Aber das Geld! (Denn entgegen gehässiger Lästereien ist Brose kein Millionär – wie auch, bei den Dumpingpreisen, zu denen er vertraglich verpflichtet ist.)

Zweimal täglich gibt's was Warmes, morgens halbe belegte Brötchen, Rühreier und, wenn's denn sein muß, um halb sieben ein Schnitzel. Nur Müsli fehlt bis dato. Aber mit Beginn der neuen Spielzeit im Herbst sind auch Körner im Angebot. Was Tag für Tag die Kantinenkompanie übern Tresen schiebt, hat mittleres Gasthofniveau: 70 halbe Brötchen (Blut- und Leberwurst gehen gar nicht); über 100 warme Essen; zwischen sechs und sieben Kästen Bier (einsamer Rekord in Mitte: 16 Sorten!); zwei Kästen Mineralwasser; zwei Kästen Cola; ein halbes Faß Zapfbier; drei Kästen Fruchtsäfte; anderthalb Kilo Kaffee; 60 Tassen Tee (Hagebutten-, Früchte-, Malven-, Kräuter-, Pfefferminz- und Schwarzer Tee). Auf Tütenzucker und Dosenmilch in Plastikportiönchen verzichtet Brose: „Den Müll mach ich nicht mit.“

Wenn Dramaturg Peter Lilienthal morgens in salopp sitzenden Jeans zum Frühstück reinschlurft, ordert er Joghurt, Kaffee, Orangensaft – in dieser Reihenfolge, jeden Tag. Pressechefin Kirsten Hehmeyer tut es ihm meist gleich. „Ist doch diese Schlankheitswelle im Anbruch“, sekundiert Brose. Intendant Frank Castorf muß von dieser auch erfaßt sein, denn: „Vor zwölf sieht man den hier unten nicht.“ Weil die Kantinenkonkurrenz vom Berliner Verlag stadtbekanntermaßen nicht magentauglich ist, bewirtet Broses Belegschaft regelmäßig Journalistenvolk aus Mitte. Zu den Stammgästen gehören auch Bauarbeiter sowie drei Frauen und ein Mann der gegenüberliegenden Chirurgie. Und mitunter funktionieren im Winter ein paar Obdachlose die Kantinenbestuhlung zur Schlafstatt um. Eine solche Vielfalt an Mitessern galt es vor November 89 nicht zu verköstigen. Anders geworden ist in der „Hoffnungsinsel alternativen Lebens“ (Castorf) aber auch etwas, das sich schlecht beschreiben läßt, am ehesten vielleicht mit: Atmosphäre. Brose sagt, er fühle sich ein bißchen wie ein „Außenseiter“ — nach 34 Jahren Theatererfahrungen ein ernstzunehmender Klagelaut. Denn zu DDR-Zeiten waren die Kantinenmenschen automatisch ins Theaterkollektiv integriert. „Wir waren Angehörige der Volksbühne“, erinnert sich Brose an seine ehemalige „Familie“. Heute muß er normalerweise, das ist Kapitalismus, für Leistungen der Volksbühne zahlen. Dann etwa, wenn das Klo verstopft oder die elektrischen Leitungen porös geworden sind.

Identitätsstifend waren auch die früheren Beschaffungstricks des Peter Brose für das Volksbühnenvolk. Einmal die Woche etwa bestach er mit „einer Pulle Schnaps“ zwei Fleischer. Die Folgen: saftige Rinderfilets, Lachsschinken, ungarische Salami. Und wenn die Damen und Herren des Politbüros sich zum Feiern in den „Panzerkreuzer“ (Castorf) begeben wollten, erhielt Brose irgendwelche offiziell bestempelten Berechtigungsschreiben, die ihm die Speisekammer füllten. Und Dutzende von „Idioten, die mit Geigerzählern jede Ecke absuchten“.

Aber auch so wußte die Staatselite ihm das Leben als Chefkoch schwer zu machen. Weil ja selbst in der Verköstigung der Feind liegen konnte, suchte bei Anlässen der Alarmstufe 1 regelmäßig ein Vorauskommando am Festtag die Kantinenküche auf und probierte von allem und jedem. „Diese Armleuchter haben in meinen Buletten rumgestochert!“ Mit einer gesunden Mischung aus Wehmut und Sich-lustig-machen rekapituliert Brose das Damals. Bei großen Anlässen, als etwa handverlesene Mitglieder der Nationalen Volksarmee im Grünen Salon auf den 1. Mai prosteten, konnte Brose beobachten, was dem Restvolk vorenthalten bleiben mußte: „Nach ein paar Gläschen waren die so betrunken, daß sie sich Witze erzählten.“ Witze, für die, sagt Brose, „ein normaler Bürger mindestens zehn Jahre in den Knast gekommen wäre“.

„Wir haben ziemlich frei gelebt im Theater“, sagt Brose. Und er sagt es nicht, als sehne er sich zurück nach dieser Zeit. Die ist vorbei. Und diese viele Verantwortung macht ihm ja auch Spaß. Nur die Atmosphäre, eben, hat sich geändert. Dazu gehört, daß es innerhalb der Volksbühne „unpersönlicher“ geworden ist. „Zur Chefebene“, präzisiert der Herr der Kantine. Er kann sich noch gut an den „warmen Händedruck“ des Intendanten jedes Weihnachten erinnern. Und an dessen Karte zu Broses Geburtstag.

Heute kriegt Brose sowas nicht mehr. „Aber deswegen wachsen mir auch nicht gleich graue Haare.“ (Und falls doch, Herr Castorf: Peter Brose wird am nächsten 12. Mai 54 Jahre alt.)

„Im Theater kann man auch feiern, auch lange trinken. Den Punkt der Asozialität darf man nie vergessen. Wir sind asozial, das ist der Ursprung.“ (Frank Castorf, Intendant der Volksbühne, im Dezember 1993)