Berliner brauchen keine Siebenmeilenstiefel

■ Die Bevölkerung der Hauptstadt wird zwar mobiler, ist aber auch in Zukunft weniger unterwegs als die übrigen BundesbürgerInnen / Horror vor zunehmendem Autoverkehr

Die ruhigen Zeiten im Dorf Berlin sind seit fünf Jahren vorüber. In Ost und West klagen die Einheimischen gleichermaßen über Kolonnen von PKWs und Schwerlastern, die sich über die wiedervereinigten Durchgangsstraßen quälen und manchen früher am Ende der Welt gelegenen Mauerkiez zum Verkehrsknotenpunkt verwandeln.

Trotzdem sind die BerlinerInnen weit weniger mobil als ihre MitbürgerInnen im Rest der Republik. Als Kennziffer der Mobilität gilt die Zahl der pro Jahr zurückgelegten Kilometer pro Person. Und da zeigt sich, daß die MetropolenbewohnerInnen die Ruhe gegenüber der Fortbewegung deutlich bevorzugen. Nach einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) legte der durchschnittliche Berliner im Jahr 1989 insgesamt 5.413 Kilometer zurück – zu Fuß, per Rad, Auto und öffentlichem Nahverkehr. Die übrige Bundesbevölkerung kam 1992 dagegen auf durchschnittliche 12.000 Kilometer. Auch bei massiver, quasi unkontrollierter Zunahme des Verkehrs würde sich die zurückgelegte Wegstrecke innerhalb des Großraums Berlin im Jahre 2010 nur auf 6.200 Kilometer belaufen – und damit weit hinter der Mobilität der anderen BundesbürgerInnen zurückbleiben.

Zwar sind die Zahlen nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Bezugsjahre nur bedingt vergleichbar, doch sie beschreiben das Phänomen: Ob die BerlinerInnen wollten oder nicht, sie konnten sich ihre Mobilitätswünsche nicht in gleichem Maße erfüllen wie die Westdeutschen. Westberlin war eine von der Mauer eingefaßte Insel, und im Osten waren zu wenige Autos vorhanden und die Fortbewegungsnotwendigkeit nicht so stark ausgeprägt. Auch in mittelfristiger Zukunft wird die Mobilität der BerlinerInnen hinter bundesdeutschem Standard zurückbleiben, weil die Vernetzung des Großraumes Zeit braucht und die Ausdehnung der Metropole ins Umland nicht von heute auf morgen geht.

Nichtsdestotrotz bereitet sich der öffentliche Nahverkehr auf steigende Passagierzahlen vor. Hartmut Schmidt, Planungsleiter der BVG, rechnet für das Jahr 2010 mit 1,25 Milliarden BenutzerInnen von U-Bahnen, Trams und Bussen gegenüber der heutigen einen Milliarde. Für die am stärksten befahrenen U-Bahn-Linien 7 (Rudow– Spandau) und 9 (Steglitz–Osloer Straße) plant die BVG bereits die Umstellung vom Drei- auf den Zweiminutentakt, und Schmidt denkt laut nach, ob die vorhandene U-Bahntrasse nicht in naher Zukunft durch parallele überirdische Schienen ergänzt werden muß, um mehr Passagiere befördern zu können.

Das Verkehrsaufkommen der S-Bahnen, dem typischen Verkehrsmittel der Pendler, soll sich bis 2010 mehr als verdoppeln. Dann würden täglich zwei Millionen Leute die rot-gelben Züge benutzen. In den nächsten Jahren allerdings machen die anstehenden Reparaturen der Gleise den PendlerInnen das Leben eher schwerer als leichter. Der freundliche Maulwurf auf den unlängst im ganzen Stadtgebiet geklebten Ankündigungsplakaten der Bahn verheißt nichts Gutes.

Angst und bange wird einigen Verkehrsplanern beim Gedanken an den zunehmenden Autoverkehr. Wird wie in der Vergangenheit die Straße gegenüber der Schiene bevorzugt, rechnet das DIW nahezu mit einer Verdoppelung des Kraftfahrzeugverkehrs, und die optimistischen Prognosen der BVG wären Makulatur. Die gehen davon aus, daß der Anteil des Autos am Verkehrsaufkommen von heute 50 auf 20 Prozent sinkt. Um das zu erreichen, meint DIW-Forscher Hartmut Kuhfeld, müßte nicht nur der öffentliche Verkehr stärker gefördert, sondern auch der Autoverkehr eingedämmt werden. Auf neue Straßen würde weitgehend verzichtet und das vorhandene Netz zugunsten von Busspuren, Tramtrassen und Fahrradrouten zurückgebaut. Hannes Koch