■ Zum 1. Juli wird die Sozialhilfe erhöht
: „Haste mal ne Mark?“

Eine Botschaft mit Symbolkraft: Ab ersten Juli bekommen SozialhilfeempfängerInnen mehr Geld. Das hört man gern in diesen sparsamen Zeiten. Mehr als zweieinhalb Millionen Sozialhilfebedürftige – kein zu vernachlässigendes Wählerpotential, eigentlich. Also hebt man die Bezüge so kräftig an, wie das Gesetz es will und wie man es für angemessen hält: um eine ganze deutsche Mark – wohlgemerkt, eine Mark im Monat, nicht die Stunde, nicht am Tag.

Kein Politiker schämt sich dafür, keinem ist es peinlich. Schließlich kann man mit einer Mark so allerhand anstellen: ein bankrottes Wohnungsunternehmen ersteigern, einen halben Topf Margarine kaufen, ein Drittelchen Busfahrkarte lösen oder zehn Monate lang eisern sparen, damit es im April 95 dann für eine Kinokarte reicht.

Man kann aber auch etwas anderes mit dieser einen Mark tun – sie postwendend zurückschicken: Annahme verweigert wegen Beleidigung. Wer Preisschilder lesen kann und das Wort Inflationsrate zum Sprachschatz zählt, weiß, daß selbst die minimalen monatlichen Lebenshaltungskosten um zweistellige Beträge gestiegen sind. Und wer den Behördenapparat kennt, ahnt, daß der Verwaltungsaufwand für die zusätzliche Mark zigfach höher ist als das, was die Betroffenen in ihren Taschen sehen: Millionen Bescheide müssen neu berechnet, geschrieben, verschickt werden – für ein lächerliches Stück Blech.

Man könnte das ganze abtun als absurdes Dokument aus dem Sozialstaats-Schilda. Aber hinter dem bürokratischen Verwaltungsakt steckt eine prägende Geste: ein Zynismus gegenüber Menschen, von denen man glaubt, daß sie ohnehin keine Würde mehr haben, die man verletzen kann. Und eine Ignoranz gegenüber einer gesellschaftlichen Entwicklung, vor der sich nicht nur die Politiker die Augen zuhalten: Die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen hat den absoluten Höchststand in der Geschichte der Bundesrepublik erreicht, aber das Niveau der gesellschaftlichen Auseinandersetzung darüber nähert sich einem Tief.

Schon lange nicht mehr war der Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebezug so direkt wie jetzt. Aber auch schon lange nicht mehr wurde soziale Not so unverblümt als individuelle Schuld gebrandmarkt. „Der Leidensdruck in diesem Land muß noch größer werden“, meint der Präsident der Industrie- und Handelskammer, Hans Peter Stihl, und fordert drastische Einschnitte vor allem bei Sozialhilfe und Renten. Worte eines sozialpolitischen Amokläufers? Eher ist da einer mit der Machete in den Wald gezogen, um zu sehen, wer sich alles in die Bresche traut. Vera Gaserow