■ Der japanische Premierminister Tsutomu Hata trat zurück
: Warten auf Ozawa

In Japan zeigt sich kaum jemand besorgt über den künftigen Regierungskurs. Doch lassen die Reaktionen in Seoul aufhorchen. Dort gibt es warnende Stimmen: Ein Rücktritt des japanischen Premierministers Tsutomu Hata hätte vor nur zwei Wochen, inmitten der internationalen Aufregung um das nordkoreanische Atomwaffenprogramm, eine gravierende diplomatische Vertrauenskrise ausgelöst. Hatte man also die Verunsicherung über den nordkoreanischen Diktator in Japan schon wieder vergessen? War es den Japanern nun sogar egal, wer das Land beim kommenden Weltwirtschaftsgipfel in Neapel vertreten würde, obwohl das G7-Forum für Tokio bisher die wichtigste außenpolitische Bühne war? Die Gleichgültigkeit, die in Japan den Rücktritt Hatas begleitete, legt nahe, daß die politische Identitätskrise im Land den point of no return erreicht hat.

Ein Jahr nach dem historischen Regierungswechsel vom vergangenen Sommer, als ein breites Koalitionsbündnis die korrupten und abgewirtschafteten Liberaldemokraten ablöste, wissen die meisten Japaner nicht, wofür die angeblich neue Politik des Landes steht. Der Eintritt von Frauen in die Regierung ist symbolisch geblieben. In den maßgeblichen Koalitionsgesprächsrunden der Spitzenpolitiker ist keine einzige Frau vertreten. Und dort, wo die Politik wirklich etwas verändern kann, bei der Bestimmung des von Schulden seit Jahren unbelasteten Staatshaushalts und der Festlegung neuer öffentlicher Investitionen, sind nicht Politiker federführend, sondern Bürokraten. Gegen jene von den Liberaldemokraten einst geschützte Bürokratenherrschaft die Interessen der breiten städtischen Mittelschichten zu vertreten – darin lag das demokratische Mandat der Regierungen von Morihiro Hosokawa und Tsutomu Hata. Das hätte zum Beispiel bedeutet: mehr U-Bahnen in den Städten, damit sich Millionen Pendler irgendwann nicht mehr wie Sardinen in der Büchse zum Arbeitsplatz bewegen. Doch brachte das neue Konjunkturprogramm der Koalition keine einzige neue Idee – aus dem einfachen Grund, weil die Politiker vollauf mit sich und ihren Parteien beschäftigt sind.

So droht nach den großen Hoffnungen des vergangenen Jahres erneut ein Teufelskreis: Die Gleichgültigkeit gegenüber der Politik entläßt die Politiker zunehmend aus ihrer demokratischen Verantwortung. Die im gleichen Zug zunehmende Arroganz und Selbstgenügsamkeit der Politik fördern wiederum das Desinteresse der Bürger. Doch haftet dieser Tendenz keine Schicksalshaftigkeit an. Deswegen muß an dieser Stelle der Name eines Politikers eingeführt werden, der im Einerlei der japanischen Politik mit erstaunlicher Überzeugungskraft für eine wenngleich konservative, so doch kohärente Reformstrategie steht. Der Mann, der seit einem Jahr als Königmacher hinter den Kulissen die Regierungsgeschäfte praktisch in der Hand hält, heißt Ichiro Ozawa. Offensichtlich hat er bisher nur wenige politische Erfolge vorzuweisen, mit der gewichtigen Ausnahme des Regierungswechsels, den er vor einem Jahr mit seinem Abschied von den Liberaldemokraten einleitete.

Dennoch verfügt Ichiro Ozawa über eine klare Vision: Er predigt die „normale Nation“, also die Abkehr Japans vom Status quo der Nachkriegszeit. Er verlangt die japanische Beteiligung an internationalen Friedensmissionen der UNO. Die Nordkoreakrise war für ihn Anlaß, umgehend Gesetzesveränderungen zu fordern, die eine japanische Teilnahme an Blockadeaktionen gegen Kim Il Sung ermöglichen würden. Ozawa steht auch für eine rücksichtslose Deregulierung der japanischen Binnenwirtschaft, die Japans Märkte für ausländische Anbieter öffnen würde, aber dem Land auch ein Arbeitslosenheer wie in anderen Industriestaaten bescheren könnte.

Die Ideen Ozawas verdeutlichen freilich: Nach dem Ende von 40 Jahren Einparteienherrschaft gibt es in der japanischen Politik keine Tabus mehr. Über die großen politischen Ausrichtungen – soziales Modell und Außenpolitik – muß neu entschieden werden. Bleibt es bei der heutigen Gleichgültigkeit, hätte der Tabubrecher Ozawa auf lange Sicht ein leichtes Spiel. Georg Blume, Tokio