Ein Test für die neuen Polizisten

Im Gaza-Streifen werden alte Rechnungen beglichen: Palästinenser, die einst angebliche Kollaborateure mit Israel umbrachten, müssen nun selbst um ihr Leben fürchten  ■ Aus Gaza Karim El-Gawhary

Donnerstag abend in der Stadt Gaza. Die Leiche des 20jährigen Nasser Salouha wird entdeckt. Der Aktivist der islamistischen Hamas- Bewegung war kein Unbekannter. Er soll vor einem halben Jahr an der Emordung eines Palästinensers beteiligt gewesen sein, der angeblich mit der israelischen Besatzungsmacht kollaboriert hat. Tags darauf mobilisiert Hamas nach dem Freitagsgebet in Gaza Tausende ihrer Anhänger bei der Beerdigung ihres Märtyrers Salouha. Sie schwören Rache für die Mörder.

Die palästinensische Polizei verhaftete unterdessen einige Mitglieder der Familie des angeblichen Kollaborateurs, ihr Haus wird bewacht. Die Untersuchung ist im Gange. Der Fall bekommt die klassische Züge von Blutrache.

Noch wenige Tage nach dem Einzug der neuen palästinensischen Polizei hatten Anhänger von Hamas zwei angebliche Kollaborateure an Straßenlaternen in Gaza aufgehängt. In einer Erklärung an Hamas forderte die Polizei anschließend die „Übergabe der Mörder, die unsere Leute (gemeint sind Palästinenser, d.Red.) ohne jegliche rechtliche Grundlage gekidnappt haben“. Am nächsten Tag verkündete Hamas, sie werde die Ermordung von Kollaborateuren vorrübergehend einstellen und zunächst abwarten, wie die Polizei mit dem Problem umgehe.

Die Polizei steht nun vor der schwierigen Aufgabe, den blutigen Teufelskreis zu unterbrechen. Tausende von Palästinensern hatten offen oder verdeckt mit den israelischen Besatzungsbehören zusammengearbeitet. Viele haben diese Zusammenarbeit nicht überlebt. Nach einer Schätzung der israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tsellem sollen 950 Palästinenser, die der Spitzelgespräche für Israel verdächtigt wurden, während des fast sieben Jahre dauernden Aufstandes zum Teil auf grausamste Weise von anderen Palästinensern umgebracht worden sein. Inzwischen wird auch von palästinensischer Seite zugegeben, daß es sich dabei teilweise auch um persönliche Abrechnungen gehandelt habe. Manche Familien, die einen der Kollaboration verdächtigten Angehörigen verloren haben, sinnen jetzt auf Rache.

„Wir sind das Thema noch nicht richtig angegangen und versuchen noch, die richtige Methode für dessen Behandlung zu finden“, drückt sich Nasser Yussuf, der Chef der palästinensischen Sicherheit in Gaza und Jericho, vorsichtig aus.

Viele vor Ort sind sich einig: Wenn die Polizei nicht schnell mit eiserner Faust die Sache in die Hand nimmt, ist die künftige Eskalation vorprogrammiert. Abgesehen vom Schutz bedrohter Personen, muß auch den alten Fällen nachgegangen werden, um zu untersuchen, wie berechtigt der Vorwurf der Kollaboration jeweils war. Das, so glaubt Marwan Kafarna, ein ehemaliges Mitglied der Nationalen Führung des Aufstandes, dürfe aber keinesfalls individuell geschehen. „Wenn jede Familie jetzt fragt, wer ihre Söhne umgebracht hat und ob dies berechtigt war, dann ist das Chaos absehbar“, fürchtet er. Alle sollten jetzt zunächst rehabilitiert werden, fordert er. Dann sollten die Fälle von der neuen palästinensischen Selbstverwaltung untersucht werden. In jedem Fall soll diese Akte möglichst schnell vom Tisch.

Eines der Probleme sind die reichlich vorhandenen Waffen. In den letzten Monaten vor Beginn der Selbstverwaltung hatten israelische Waffenhändler den Gaza- Streifen buchstäblich mit billigen Waffen überschwemmt. Manche fordern nun zusätzlich die offizielle Bewaffnung derjenigen, die an der Ermordung von als Kollaborateure Verdächtigten beteiligt waren, um sich vor Rache schützen zu können. Tatsächlich, so sagt ein Palästinenser, ist es unmöglich, alle zu schützen, die an der Ermordung von angeblichen Kollaborateuren beteiligt waren. Zu viele hatten ihre Finger im Spiel. Es gab welche, die Entscheidungen getroffen haben, diejenigen, die die Morde ausgeführt haben und Leute, die Schmiere standen. Nun will die Polizei Waffenscheine ausgeben.

Das Thema wird die palästinensische Gesellschaft wohl noch lange beschäftigen. Der Riß ging manchmal quer durch die Familien. Ein Bruder arbeitete für den israelischen Geheimdienst, und der andere Bruder verpfiff ihn als Kollaborateur. „Wer weiß, wie wichtig die Familienbande für die Menschen in Gaza sind, der versteht, was die palästinensische Gesellschaft jetzt durchmacht“, sagt Karfana.

Doch das Problem der Kollaboration ist nicht ein rein palästinensisches: „Warum fordert niemand eine Untersuchungskommission, um die Verantwortlichkeit der israelischen Armee und des israelischen Geheimdienstes an der Ermordung von über 900 Kollaborateuren zu untersuchen?“ fragte die israelische Zeitung Maariv in einem Editorial zu Beginn dieses Jahres.