Die Angst vor der Reform

Auch nach der Präsidentenwahl steht die Ukraine vor ungelösten Wirtschaftsproblemen / Regionen wollen unabhängig werden  ■ Von Klaus Bachmann

Kiew (taz) – „Melden Sie sich doch“, bat die Dame im etwas heruntergekommenen Büro des Volksbildungsvereins „Proswita“ in Tschernowitz, „falls Sie irgendeine Arbeit in Polen finden. Ganz gleich was, Hauptsache, es kommt ein wenig Geld ins Haus.“ Das war im Frühling dieses Jahres, als die Ukraine gerade ihren halb geplanten, halb unfreiwilligen Inflationsschock erlebte.

Für drei Monate hielt die Nationalbank in Kiew billige Kredite für die Staatswirtschaft zurück. Im Dezember hatte die monatliche Inflationsrate 80 Prozent betragen, im Februar sank sie auf 20 Prozent ab. Doch in dieser Zeit ging allen das Geld aus: Der Staat bezahlte seine Angestellten, Beamten, Lehrer und Krankenschwestern nicht mehr, auf dem Lande entschädigten die Kolchosen ihre Arbeiter in Naturalien.

Für einige Zeit sah es auch sonst aus, als kehre die Ukraine zur Tauschwirtschaft zurück. Zum ersten Mal seit Jahren gab es in Kiew vor den Lebensmittelläden keine Schlangen mehr: Ware war genügend da, nur die Käufer fehlten. Die Preise für alles, was nicht subventioniert wurde, stiegen dagegen fast auf westliches Niveau.

Statt wie bisher einzupacken, was nicht niet- und nagelfest war, um es in Polen auf den Flohmärkten zu verkaufen, begannen die Ukrainer jetzt ihrerseits im westlichen Nachbarland einzukaufen. Die grenznahen Gemeinden erlebten einen Käuferansturm, der bis heute anhält. Weniger erfreut sind sie über die ukrainischen Schwarzarbeiter, die sich nun zu fast jeder Arbeit zu einem Bruchteil der polnischen Löhne bereitfinden – etwa so wie die polnischen Schwarzarbeiter in Deutschland.

Seither weiß man, was bei einer Anwendung der polnischen Roßkur in der Ukraine herauskommt: 30 Prozent der Industriebetriebe müßten geschlossen werden, errechneten Experten, die Produktion fiele um 40 Prozent von einem Monat auf den anderen, die Arbeitslosenrate könne dann auf 40 Prozent steigen.

Zur Zeit liegt sie bei 0,4 Prozent, aber nur, weil viele Betriebe statt Entlassungen Kurzarbeit einführen. Im Maschinenbau wird in jedem dritten Betrieb nur einige Tage in der Woche gearbeitet.

Dieses Katastrophenszenario für Monetaristen bedeutet nun aber keineswegs, daß die Fortsetzung des Status quo, zu der das Parlament bisher noch jede Regierung gezwungen hat, mehr Erfolg verspricht. Im zurückgetretenen Parlament saßen mehrere große Lobbygruppen, die stets versuchten, sich gegenseitig mit Forderungen nach Subventionen den Rang abzulaufen. Die Notenpresse machte Überstunden und die Waren verschwanden aus den Läden.

Ganz gleich also, ob man eine hohe Inflation zuläßt oder bekämpft – die Produktion fällt immer weiter in den Keller. Von 1992 auf 1993 sank das Bruttoinlandsprodukt um 15 Prozent, im letzten Jahr waren es 20 Prozent. Der Karbowanez, eine Art Kuponwährung, die schon lange durch die „Griwna“ hätte ersetzt werden sollen, verliert immer mehr an Wert. Als der Karbowanez eingeführt wurde, tauschte ihn die Nationalbank 1:1 gegen den Rubel, der Schwarzmarkt dagegen 1:1,4. Das war vor anderthalb Jahren. Heute steht es 1:7 für den russischen Rubel – ein Verhältnis, das für die Ukraine höchst politische Konsequenzen hat: Als die Ukraine vor drei Jahren unabhängig wurde, galt sie als die ehemalige Sowjetrepublik, die nach dem Baltikum die besten Entwicklungschancen hatte. Die Ukraine war es, die mit ihren fruchtbaren Schwarzerdegebieten die Nachbarländer mit Lebensmitteln versorgt hatte, sie hatte die günstigen Verkehrswege, eine breite Schicht gut ausgebildeter Facharbeiter und große Industriezentren. Kein Wunder, daß sich selbst die russischsprachigen Gebiete der Ukraine und die nationalen Minderheiten für die Unabhängigkeit aussprachen.

Heute dagegen blicken ukrainische Russen, Ungarn, Rumänen und Slowaken über die Grenze, und was sie da sehen, gefällt ihnen wesentlich besser als der Alltag zu Hause. Selbst in Rumänien sind die Löhne in Dollar gerechnet vier- bis sechsmal höher als in der Ukraine. Den amtlichen Statistiken zufolge steigen die Preise noch dazu im russischorientierten Osten bedeutend schneller als im ukrainisch-nationalen Westen.

Am schnellsten trabt die Inflation in Simferopol, der Verwaltungshauptstadt der autonomen Halbinsel Krim. Die Krim ist inzwischen dabei, den Sprung von der Autonomie zur Unabhängigkeit zu machen, andere Regionen dagegen kämpfen noch um die Autonomie: Lugansk, Donezk, die Karpato-Ukraine, Odessa. Überall gibt es Projekte für zollfreie Zonen und Sonderwirtschaftsgebiete. Allen Regionen ist gemein, daß sie sich möglichst schnell von der Kiewer Misere loslösen wollen.

Am weitesten fortgeschritten ist damit die Krim, deren Politiker offen erklären, sie wollten auf der Halbinsel ein Off-shore-Steuerparadies einrichten. Die Planungen für ein eigenes Diplomatenviertel in Simferopol haben bereits begonnen, die Krim-Regierung will demnächst sogar Lizenzen für Auslandsbanken vergeben, obwohl das sowohl nach dem ukrainischen als auch russischen Bankengesetz nicht möglich ist.

Vor Diplomaten und Journalisten kündigte Präsident Meschkow Ende Mai ein eigenes Privatisierungsprogramm an. Was er dabei vergaß: Die Krim ist wirtschaftlich und infrastrukturell von der Ukraine völlig abhängig. Sie besitzt keine eigenen Raffinerien und steht deshalb mit 350 Milliarden Karbowanez Schulden für ukrainische Energielieferungen bei der Zentralregierung in der Kreide.

Trotz aller Drohungen hat die Regierung in Kiew Meschkow den Hahn aber noch nicht zugedreht. Die Ukraine befindet sich Rußland gegenüber nämlich in der gleichen Lage: Die Auslandsschulden bei Moskau aus nichtbezahlten Energielieferungen betragen knapp eine Milliarde Dollar. Zum Vergleich: Die ausländischen Investitionen belaufen sich bisher auf 156 Millionen, der Exportüberschuß in den ersten zwei Monaten dieses Jahres auf 238 Millionen Dollar.

Woher aber kommt es, daß ein Land mit potentiellen Getreideüberschüssen inzwischen Weizen aus Deutschland importiert? Eine Wirtschaftsreform hat in der Ukraine nie wirklich stattgefunden. Privatisiert wurden fast nur Kleinbetriebe, die der Belegschaft übergeben wurden, ohne daß frisches Kapital hinzukam. An der Kiewer Börse sind gerade acht Aktiengesellschaften notiert. Die allgemeine Gewerbefreiheit und der freie Devisentausch dagegen führten zu einem gewaltigen Aderlaß. Über Bartergeschäfte und Schmuggel flossen gewaltige Mengen an Rohstoffen ins Ausland, selbst aus Rußland importiertes Benzin gehörte dazu. Außenhandelsbetriebe lagern ihre Erlöse auf Schweizer Bankkonten, die auf die Namen der Direktoren geführt werden.

Ende letzten Jahres führte Präsident Krawtschuk wegen der allgemeinen Devisenknappheit die Zwangsbewirtschaftung ein: Seither müssen die Betriebe die Hälfte ihrer Exporterlöse zum offiziellen Kurs beim Staat abliefern. Die Zwangsparität lag bei Einführung des Dekrets bereits fünfmal niedriger als der Schwarzmarktkurs.

Zur selben Zeit wurde die Devisenbörse geschlossen. Der Export, der immer stärker mit Verordnungen, Abgaben und Mengenbegrenzungen geregelt wird, schrumpft dahin, denn die offizielle Währungspolitik ist vor allem darauf angelegt, die Rohstoffimporte aus Rußland zu verbilligen.

Wie es weitergehen soll, wissen in Kiew nur die wenigsten. Die Regionen versuchen sich von der allgemeinen Misere abzugrenzen, die Bürger und Bürgerinnen suchen ihr Glück in der Schattenwirtschaft, im Ausland oder bei der organisierten Kriminalität.

Die Parlamentsmehrheit aus Sozialisten, Kommunisten und undefinierbaren Parteilosen postuliert den Schutz der Bevölkerung vor den Kosten der Reformen, bevor die Reformen überhaupt stattgefunden haben. Und eine kleine Gruppe ehemaliger Parteiintellektueller und Wirtschaftsprofessoren blickt sehnsüchtig nach Rußland, wo wenigstens eine Zeitlang so etwas wie eine Reform stattfand, die sich nicht auf das Ankurbeln der Notenpresse beschränkte.