Rosen für die Panzer und Gewehr bei Fuß

Am Wochenende verabschiedete sich die russische Westtruppe mit einer fast schon anarchistischen Militärparade  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Weiße Handschuhe, weiße Koppeln, Schaftstiefel, die Soldaten in braunen Uniformen, die Offiziere in maßgeschneiderten blaugrünen. Seit neun Uhr morgens stehen am Sonnabend 1.500 Soldaten der russischen motorisierten Schützenbrigade in Ehrenformation nahe des Berliner Freizeitparks Wuhlheide. Die Sonne brennt, der Asphalt fängt an zu schmelzen, den blutjungen Soldaten läuft der Schweiß in die Kragen. Um elf soll die zweite russische Militärparade in der Geschichte der „Berlin-Brigade“ beginnen. Die erste war die Siegesparade mit Marschall Schukow im Mai 1945. Die Befreiung Berlins ist ausschlaggebend für den Ehrentitel „Berlin-Brigade“, und den wird die 1941 in Stalingrad gebildete Formation, die später am Dnepr kämpfte, auch weiterhin tragen. Spätestens am 31. August wird sie ins russische Kursk verlegt.

Irgendwann beginnen endlich die offiziellen Abschiedsreden. Etwa 30.000 BerlinerInnen, darunter auffällig viele SeniorInnen, meist aus dem Ostteil der Stadt, warten weiter auf die Parade. Doch zunächst muß „Diepgenow“, wie der Regierende Bürgermeister vorgestellt wird, noch eine Rede halten. „Wir haben aus der Geschichte gelernt“, sagt er. Gleichzeitig werden Protestflugblätter gegen die klammheimliche Sprengung der Brücke von Torgau verteilt. Dort an der Elbe begegneten sich im April 1945 russische und amerikanische Soldaten, jetzt störte die historische Brücke die bundesdeutsche Schiffahrt.

Nach Berlins Bürgermeister ist der Oberbefehlshaber der russischen „Westgruppe der Truppen“, Michail Burlakow, dran, und schließlich spricht noch der Kommandeur der „Berlin-Brigade“ Generalmajor Makarow. Viel ist von früheren Opfern und jetziger Freundschaft die Rede, kein Wort zu den Demütigungen, die die russischen Truppen durch deutsche Regierungsstellen erfahren mußten. Die Westalliierten wurden vor einer Woche gemeinsam auf der repräsentativen Straße des 17. Juni verabschiedet. Die Russen blieben für sich, auf einer mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum erreichbaren Ausfallstraße im Ostteil der Stadt. „Eine Schande“, nennen dies viele, „die sowjetischen Soldaten sind zu Zehntausenden gefallen, die Westmächte ernten den Ruhm.“

Aber von diesen ganzen peinlichen Querelen spüren die Soldaten heute wenig, es ist ihr Ehrentag. Wochenlang haben sie sich vorbereitet. Die russische Art zu paradieren hat nichts von dem jazzigen Swing der Amerikaner. „Hurrää“ posaunt es zu Beginn. Der langgezogene Chor der Soldaten klingt wie die La-ola-Welle beim Fußball. Und dann Ras, Dwa, Tri, exakt wie auf dem Reißbrett geht es los: Gewehr bei Fuß, Gewehr links, Gewehr hoch, Kopf hoch, Augen rechts, an der Ehrentribüne vorbei. Die aus Moskau extra eingeflogenen Veteranen der Schlacht um Berlin verziehen keine Miene, auch nicht als zwei Soldaten wie die Zinnsoldaten einfach umkippen. Hitzschlag.

Hundert Meter östlich der Ehrentribüne, außerhalb von Burlakows Blickfeld, löst sich die Parade-Inzsenierung im Chaos auf. „So jedenfalls läßt sich kein Krieg gewinnen“, kommentiert jemand. Denn anstatt, wie drei Tage zuvor bei der Generalprobe geübt, ein, zwei Kilometer die Straße nach Osten zu marschieren, biegt der voranschreitende Spielmannszug – zack, zack – in den Wald ab. Alle Formationen mit Ehrenfahnen hinterher. Das hat tumultartige Folgen. Denn aus sicherheitstechnischen Gründen stoppt der ganze Konvoi der hinterherratternden GUS-Kampftechnik. Etwa eine halbe Stunde lang werden nun die Panzer- und Flakgeschützfahrer mit Sympathiebeweisen zugeschüttet.

Blumensträuße fliegen auf die Panzer, die Soldaten ordnen Buketts auf den Rohren, stecken Rosen in die Luken. Väter heben ihre Kleinkinder auf die Kettenfahrzeuge, Mütter klettern freiwillig. In einem Jeep findet sich ein weißer Teddybär, in den Taschen der Sergeanten deutsche Adressen, aus Cottbus, Berlin, Leipzig und anderswo. Panzerluken öffnen sich, damit Zivilisten hineinkrabbeln können, die Flakgeschütze werden liebevoll betatscht – auch die Soldaten bleiben nicht verschont. Und alle möchten noch ein Abschiedsbild: Junger Soldat im Kreise der Familie.

Die deutsche Polizei rennt mit Walkie-talkies herum, versucht die teutonische Ordnung wiederherzustellen, so eine anarchistische Militärparade gab's noch nie. „Das kann ich nicht nachvollziehen“ stöhnt ein Ordnungshüter. Und als die rollenden Geschütze sich irgendwann wieder in Bewegung setzen, winken Soldaten und Zivilisten sich gegenseitig zu, bis die Arme schmerzen. Obwohl Dieselwolken die Luft blau färben und die 14-Tonnen- Panzer den Asphalt aufreißen. „Mir hat einer zugezwinkert“ lacht eine 68erin aus Charlottenburg glücklich, „und ich habe zum erstenmal mit Winkelementen Soldaten zugejubelt“, gesteht die Freundin, überhaupt nicht verlegen.

So wie den beiden ging es vielen. Neben Alt-Kommunisten und vom Faschismus befreiten dankbaren BerlinerInnen waren die gekommen, die auf eine sehr private Weise den Soldaten zeigen wollten, daß das Theater um die offizielle Verabschiedung nur beschämend ist. „Die Art und Weise, wie die russische Westgruppe aus Deutschland herausgeworfen wird, wird sich rächen“, meint Christine Nahser, Initatorin einer Bürgerintiative für den Wiederaufbau der teilgesprengten Brücke von Torgau. Daß die Rückgabe der 1945 von der Roten Armee in die Sowjetunion verschleppten deutschen „Beutekunst“ nicht vorankommt, sei „mit Sicherheit“ ein Ergebnis dieser Peinlichkeiten.

Andere ParadebesucherInnen fürchten, daß die Kombination von Armut in Rußland und Demütigung in Deutschland die nationalistischen Kräfte im Lande Jelzins stärken wird. Schließlich sollen bei der letzten Wahl zur Duma etwa 30 Prozent der in Deutschland stationierten russischen Soldaten Schirinowski gewählt haben. Doch die große Politik hat beim abschließenden Fest in der Wuhlheide keinen Platz. Während Helmut Kohl auf dem EU-Gipfel in Korfu mit Boris Jelzin all seine Vorstellungen über die offizielle Verabschiedung der Russen am 31. August durchsetzt – des Kanzlers Wünsche: Kranzniederlegung in der zentralen Gedenkstätte Neue Wache und reduziertes Militärzeremoniell am russischen Ehrenmal in Treptow –, singen die Soldaten der Westgruppe ein letztes Mal ihr eigens komponiertes Abschiedslied: „Leb wohl Berlin, unsere Herzen heimwärts ziehn.“