Urlaub im Knast an der Moldau

Die Zelle, in der Präsident Václav Havel einst in Untersuchungshaft saß, ist heute Teil einer Touristenpension / Das Geschäft blüht, die „Auslastung“ ist besser als in den Prager Nobelhotels  ■ Aus Prag Tomas Niederberghaus

Der Bau gleicht einem Labyrinth. Der Flur im Erdgeschoß führt um unzählige Ecken, schachbrettgroße Lagepläne helfen den Besuchern bei der Orientierung. Schließlich weist ein großes Schild mit einer Treppe und der Aufschrift „La prison“ die Richtung. Hier im Untergeschoß des Gebäudes in der Bartholomejska 9 befindet sich die Zelle, in der der jetzige Staatspräsident der Tschechischen Republik, Václav Havel, mehrmals in Untersuchungshaft saß. Nach der Revolution wurde das Gefängnis zur Pension, in Prags „Zelle sechs“ übernachten seitdem Engländer und Amerikaner.

Doch die Wandlung vom Gefängnis zur Pension war nur ein weiterer Schritt in der abwechslungsreichen Geschichte des Gebäudes mitten im Prager Zentrum. Ursprünglich befand sich hier das Kloster der Grauen Schwestern. 1948 wurde der Besitz des Ordens verstaatlicht, die Schwestern in Lager in Nordböhmen abgeschoben. Danach bezog die Geheimpolizei STB die Räume.

Als die Grauen Schwestern das Gebäude nach der Wende zurückerhielten, wollten sie hier ein Museum einrichten, erzählt der Leiter der Pension, Jiří Vidim. Doch das hätte nur wenig Geld eingebracht. Denn der böhmische Orden erhält keine finanzielle Unterstützung. Mit der Vermietung einiger Räume an Vidim können die Nonnen nun das ganze Kloster finanzieren, was sich unter ihren Schwestern in der Provinz schnell herumgesprochen hat. Als vor zwei Jahren immer mehr von ihnen auf einen Platz im Prager Kloster pochten, mußte Vidim den ersten Stock der Pension an die Schwestern zurückgeben.

Die Verwandlung vom Kellerknast zur Pension war noch nicht abgeschlossen, als am 22. Dezember 1992 unerwartet Besuch vor der Tür stand: Präsident Vaćlav Havel und seine Majestät, Prinz Charles von England. „Sie hatten sich die St.-Bartholomäus-Kirche angesehen“, sagt Vidim, „sie steht auf der Liste von Charles zur Rettung Prager Baudenkmäler. Darüber unterhielten sie sich auch mit der Mutter Vorgesetzten.“ Als die danach zu den Zellen in den Keller hinabstiegen, holte Vidim schnell seine Kamera aus dem Schrank. Die Fotos hängen heute in der Empfangshalle: Der Prinz in dunkelblauem Anzug, grauem Mantel und petrolfarbenem Schal, Vaćlav Havel ganz leger in beiger Windjacke. Im Schlepptau der Prominenz eine Traube Journalisten.

Vidim erinnert sich, als sei es gestern gewesen. Die Videoaufzeichnung der BBC-Sendung über den Besuch des Prinzen sieht er sich immer wieder an. „Der Charles, muß ich sagen, war ganz erschrocken, nachdem er einen Blick in die Zelle geworfen hatte. Dann sah er Havel an und meinte: ,Wie konnten Sie hier nur überleben?‘“

Der Besuch der beiden Promis war für Vidim, die Pension und das über 130 Jahre alte Kloster die beste Werbung. Noch immer rennen die Kamerateams die Türen ein. Keine andere Prager Herberge, nicht einmal das prunkvolle Jugendstilhotel Paříž, war in den vergangenen Jahren ein so beliebtes Motiv wie die Pension. Insbesondere Amerikaner huldigen der spartanischen Absteige: Die Geschichte des Hauses, so heißt es, habe das Zeug für eine „Tragödie“ nach „griechischem Vorbild“. Tatsächlich ist es aber wohl eher so, daß die noch immer nach Zement und Moder riechenden Zellen mit den harten Eisenbetten als Abenteuer Knast erlebt werden. Heute muß der Besucher freilich nicht befürchten, von rüden Beamten durch die kalkweißen Gänge zu einem Verhör geführt zu werden. Statt dessen sind bis in die frühen Morgenstunden kichernde Teenies und HipHop-Gedröhne zu hören. Was, kann man sich fragen, denkt wohl Vaćlav Havel über die ungewöhnliche Nutzung jenes Ortes, in dem er eingekerkert war?

Havel soll die BBC-Aufzeichnung gesehen und sich „königlich amüsiert“ haben, weiß Vidim von den Journalisten. Der Pressesprecher des Präsidenten gibt dagegen eine ganz andere Auskunft. „Die Tatsache, daß in der Bartholomejska-Gasse heute Touristen übernachten, ist bizarr und lächerlich, aber im Unterschied zu anderen regt sie mich nicht auf“, zitiert er den Dramatiker.

Natürlich weist Vidim den Vorwurf, die „Besonderheit des Hauses“ und den Namen Havel zu vermarkten, weit von sich. Zwar weiß der 35jährige Pensionschef, daß vor allem amerikanische Yuppies bereit wären, für eine Übernachtung in Zelle sechs Hotelpreise zu zahlen, doch er weiß auch, daß er „bei den Schwestern nur Gast“ ist. Und die lehnen solche Geschäfte ab. Seine Zielgruppe rekrutiert sich daher aus Schülern und Studenten, für die die Übernachtung mit Frühstück 25 Mark kostet. Insgesamt gibt es 111 Betten in der Pension, davon 80 im Zellentrakt.

„Wir haben schon Wochen vorher darüber Witze gerissen, daß wir mit den Nonnen in der Zelle beten müssen“, sagt Ronny Frohmüller. Der 20jährige Schüler ist mit zwölf Mädchen der Berufsbildenden Schule aus dem sächsischen Weißenfels einige Tage auf Exkursion an der Moldau. Allein sitzt er auf einem Holzstuhl im kleinen Gefängnishof. Er müsse sich von der vorhergehenden Nacht erholen. Im großen und ganzen ist er zufrieden mit dem Aufenthalt. Nur die Zellen seien brutal eng und auch die Mahlzeiten erinnerten an klägliche Knastzeiten. „Anschließend muß man zu McDonald's, um satt zu werden.“

Solche Urteile beeinträchtigen das Geschäft jedoch nicht. Die Pension hat eine Bettenauslastung von 80 Prozent, die damit weit über der anderer Prager Hotels liegt, wo sie im Jahresdurchschnitt etwa 55 bis 60 Prozent beträgt. Das Plastikschild an Zelle sechs konnte so inzwischen durch eine Mamortafel ersetzt werden, auf der zu lesen ist: „President Havel was jailed here.“ Das Motiv können die Besucher zusammen mit „Schönen Grüßen aus dem Knast“ demnächst auch an die Daheimgebliebenen verschicken. Die Postkarten werden gerade gedruckt.