■ Mit Asthma auf du und du
: Der Wohlstand macht's

Stockholm (taz) – Die Zahl der Asthmaerkrankungen hat sich in Nord- und Westeuropa bei siebenjährigen Mädchen in den letzten 20 Jahren vervierfacht, bei gleichaltrigen Jungen verdoppelt. Fast die Hälfte aller Kinder in den Industrieländern weist heute allergische Anlagen auf, mit allerdings unterschiedlich ausgeprägtem Symptomverlauf.

Alle neueren Statistiken deuten auf einen unerwarteten Zusammenhang hin: Nicht Länder mit besonders starker Luftverschmutzung, unzureichend ausgebautem Gesundheitssystem und einem Platz im unteren Teil der Lebensstandardtabelle führen die Asthma- und Allergiehitlisten an, sondern die hochentwickelten Industrieländer. Asthmahäufigkeit und Wohlstandsrate scheinen in einem direkte Zusammenhang zu stehen.

Leif Rosenhall, Medizinprofessor aus Stockholm, hält Asthma für „den Preis des wachsenden Wohlstands“. Was genau am Leben in einer Wohlstandsgesellschaft so allergieanfällig macht, darüber tappen die Experten allerdings weitgehend im dunkeln. Geballter Dreck in Luft und Wasser sind es jedenfalls nicht. In Osteuropa und im Baltikum haben zwar mehr Kinder Erkrankungen der Atemwege, aber eine deutlich geringere Allergie- und Asthmaanfälligkeit: Nicht einmal ein Drittel des Westniveaus erreichen die Allergiker-Zahlen, trotz eines Mehrfachen an ungereinigt qualmenden Schornsteinen und rauchenden Müttern.

Neben der mit wachsendem Wohlstand oft ungesünder werdenen Ernährungsweise, dem engen Kontakt zu Haustieren und Wohnungen, die durch Isolierung zu Luftfallen und Pilzgewächshäusern werden, nannten Wissenschaftler in Stockholm eine weitere Gefahr: Wohlstandskinder erkranken zu selten. Mit übertriebenen Impfungen und dem zu schnellen Griff zu Medikamenten und Antibiotika machen immer mehr Kleinkinder Infektionskrankheiten entweder gar nicht mehr oder nur in stark abgeschwächter Form durch.

Genau diese ungestört durchstandenen Kinder- und sonstigen Infektionskrankheiten scheinen eine zentrale Rolle beim Aufbau einer körpereigenen Allergie- und Asthmaabwehr zu spielen. Auch wenn Erbfaktoren ganz wesentlich die Allergieanfälligkeit mitbestimmen, so scheinen die KinderärztInnen gründlich umdenken zu müssen: Keuchhusten, Windpocken, Masern und Scharlach mit Impfungen und Medikamenten wegzudrücken führt eher zu lebenslangem Schaden als zu irgendeinem Nutzen. Reinhard Wolff