Tschernobyl: Kein Fluchtgrund

Menschen, die aus den Strahlengebieten der früheren Sowjetunion fliehen, haben in der EU keine Chance auf Asyl / Immer mehr Umweltflüchtlinge  ■ Von Rudolf Langer

Berlin (taz) – Jurij S. hatte lange mit dem sicheren Job bei den Aufräumarbeiten um Tschernobyl argumentiert. Seit seine Schwiegermutter an Brustkrebs gestorben war, wußte er: Das Leben seiner Familie stand auf dem Spiel. Letztes Jahr hatte eine Klinik in Untrecht der alten Dame die Strahlenverseuchung bestätigt. Auch der Körper von Jurijs Frau spielte seit Monaten bei den kleinsten Infekten verrückt; die Krebsfälle in der Nachbarschaft häuften sich. Die Familie beschloß auszuwandern. Als sie ihren Asylantrag in Würzburg mit radioaktiver Verseuchung begründete, hatte sie keine Chance auf Anerkennung. In der europäischen Gesetzgebung existieren Umweltflüchtlinge nicht.

Zwar waren Mutter und Kind krank, aber der Vater zeigte keine auffälligen Symptome. Wenigstens ihn wollte die Ausländerbehörde umgehend in die Ukraine abschieben. „Die Umsiedlungsprogramme dort“, sagt Professor Wjatscheslaw Scharow vom Institut für die Ärzte-Weiterbildung in Tscheljabinsk, „wurden aus Geldmangel eingestellt. Noch leben Tausende Familien in verstrahltem Gebiet.“

Ähnliche Situationen wie um Tschernobyl existieren in Rußland. Trotz der verschwindend geringen Aussicht, in der Bundesrepublik eine neue Heimat zu finden, stellten in den letzten Jahren immer mehr Personen aus den verstrahlten Gebieten im Ural Antrag auf Asyl. 1991 wurden aus der Sowjetunion 5.690 Personen registriert; 1992 waren es aus Rußland 4.000, aus der Ukraine 2.603; 1993 aus der Russischen Föderation 5.280 und der Ukraine schon 4.510. 1993 erfolgten bei 3.420 Entscheidungen nur acht Anerkennungen.

Trotz der sich abzeichnenden Tendenz sind Umweltflüchtlinge – außer in den Flüchtlingsgremien der Vereinten Nationen – kein Thema. Die 200.000 Menschen, die nach dem Reaktorunfall von Three Miles Island aus der Umgebung von Harrisburg flohen, sind vergessen. Auch bei Pro Asyl heißt es: „Den typischen Umweltflüchtling hat noch niemand in einem deutschen Flüchtlingslager entdeckt.“ Das verwundert wenig, denn die Angabe von Asylgründen wird nirgendwo statistisch erfaßt.

Bis heute gibt es in ganz Europa kein politisches oder juristisches Werkzeug, um mit der rasch wachsenden Menge von Umweltflüchtlingen umzugehen. In der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 sind sie nicht erwähnt.

500 Millionen Umweltflüchtlinge

Flüchtlinge aus verstrahlten Gebieten sind in der auf 500 Millionen Menschen geschätzten Menge von Umweltflüchtlingen nur eine Minderheit. Bevölkerungswachstum, Armut und steigendes technologisches Niveau der Entwicklungsländer stehen in Wechselwirkung mit einer dramatischen Umweltzerstörung. Bevölkerungswachstum bedeutet Trockenlegung von Feuchtgebieten, Abholzung und Brandrodung, Überjagung, Überfischung und Überweidung sowie den Verbrauch immer neuer Flächen. Das Ergebnis sind Erosion, Wüstenbildung und Wasserknappheit. 95 Prozent der ersten Generation von Umweltflüchtlingen weicht in die Großstädte oder die Nachbarländer aus. Erst fünf Prozent drängen nach Europa.

In den juristischen Fachzeitschriften der Bundesrepublik wird das Thema Umweltflüchtlinge bislang übergangen. Der Rechtsanwalt Arnold Köpcke-Duttler aus Kist bei Würzburg versucht seit Monaten, eine Diskussion über Umweltflüchtlinge in Gang zu bringen. Er fürchtet, deutsche Juristen könnten von der Entwicklung überfahren werden und müßten mangels Kenntnis und anwendbarem Gesetz Unrecht sprechen. Der Umweltjurist wurde unversehens vom Theoretiker zum Augenzeugen, als die um Asyl bittende ukrainische Familie sich an ihn wandte, nachdem ihr Asylantrag als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt worden war. Köpcke-Duttler: „Hätte es nur ,unbegründet‘ geheißen, hätten wir mehr Zeit gehabt. Aber man wollte die ganz schnell raus haben.“

Der Jurist wirft den Richtern vor, Umweltgefahren zu leugnen und bei Umweltflüchtlingen die geringen Ermessensspielräume im Asylrecht nicht auszuloten. Ein Richter habe im Asylverfahren die Pflicht, die Gefahr für Leib und Leben des Antragstellers zu überprüfen.

„Richter leugnen die Umweltgefahren“

Zwar sei es gängiges Recht, daß solche Gefahr nichts mehr gilt, wenn sie groß genug ist und ganzen Volksgruppen droht. „Trotzdem“, meint der Umweltjurist, „könnten mutige Richter die allgemeine Gefährdung zugleich als Gefährdung des einzelnen auslegen und dahingehend Recht sprechen. Fußballspieler dürfen ja nach einer Sonderklausel im deutschen Ausländergesetz ebenfalls ungehindert einreisen.“

Auch Arnold Köpcke-Duttler weiß, daß es nicht ausreicht, den politischen Flüchtlingsstatus auszudehnen. Zumindest seien Fragen des Asylrechts mit denen der weltweiten ökologischen Bedrohung zu verknüpfen. Pro Asyl ließe das Thema am liebsten ganz beiseite. Man befürchtet, das Thema Umweltflüchtlinge könnte dem Recht auf politisches Asyl den Todesstoß geben.

Den Tschernobyl-Flüchtlingen ist mit solchen Einsichten nicht geholfen. Nachdem der Abschiebebescheid für Jurij S. ergangen war, stellte Arnold Köpcke-Duttler beim Verwaltungsgericht einen Eilantrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung, die Familie nicht zu zerreißen. Den Hinweis des Anwalts auf Schutz von Ehe und Familie gemäß Artikel 6 Grundgesetz hatte der leitende Angestellte der Ausländerbehörde mit der Bemerkung: „Ein Vater, was ist das schon?“ abgetan. Die Ablehnung erfolgte in wenigen Stunden. Da wollte auch Frau S. nicht bleiben. Ein paar Stunden später hatten Polizisten die Familie verladen – zurück nach Tschernobyl.