„Wir tragen noch DDR-Eierschalen“

Ausrangierte Diplomaten treffen sich regelmäßig und erörtern die Weltlage / Die meisten aus Honeckers Elitekorps sind heute arbeitslos, fahren Taxi oder verkaufen Waschmaschinen  ■ Von Thorsten Schmitz

Der Zirkel trägt einen geheimnisvollen Namen. So geheimnisvoll, daß niemand auf die Idee kommen kann, wer sich dahinter verbirgt. Einen „Verband für internationale Politik und Völkerrecht“ haben ostdeutsche Männer und Frauen vor vier Jahren gegründet. Dem Verein gehören Diplomaten und Botschafter an, die bis zum Mauerfall im Auftrag des „Aumi“, wie das Außenministerium am Marx-Engels-Platz intern genannt wurde, die große weite Welt kennenlernten. Der Verband plant mehrere Veröffentlichungen zur Geschichte der DDR-Außenpolitik, Arbeitsgruppen diskutieren über die Inhalte.

Heute sind die meisten aus Erich Honeckers Elitekorps arbeitslos; Von den 1.043 Botschaftern, Sekretären und Attachés im diplomatischen Dienst der DDR hat das Bonner Auswärtige Amt ganze 23 übernommen: Berufsanfänger, jung und ohne Vergangenheit.

1.400 Mark Arbeitslosenhilfe

Bei den anderen reicht das wenige Geld höchstens noch für einen Wanderurlaub in Österreich. Wer es mit seinem Stolz vereinbaren kann, fährt Taxi, verkauft Waschmaschinen oder füllt die viele freie Zeit mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Für die anderen gibt es 1.400 Mark Arbeitslosenhilfe. Die Rente fällt noch geringer aus. Denn das Bundesarbeitsministerium will nicht, daß „Personen, die durch ihre Tätigkeit einen erheblichen Beitrag zur Aufrechterhaltung des politischen Systems der ehemaligen DDR geleistet haben, überdurchschnittlich hohe Rentenleistungen erhalten“. Die ehemals leitenden Staatsdiener des kleineren Deutschland demütigt der abrupte Karriereknick genauso wie der monatliche Kontoauszug.

An einem Donnerstagmittag sitzen fünf Männer und eine Frau in einem versteckt gelegenen Zimmer der Stadtbibliothek Berlin- Mitte. Man duzt sich, und es ist, als träfe sich ein Seniorenclub zum Ausflug. Die sechs machen einen Ausflug in die eigene Geschichte.

Gerhard Kurth, 65, zuletzt Botschafter in Mexiko, jetzt arbeitslos, hält ein zehnminütiges Referat über die Beziehungen der DDR zu Lateinamerika, wobei er sich neun Minuten der „authentischen Revolution“ in Kuba 1959 widmet,

Dem Verband unter Vorsitz von Siegfried Bock, 67, dem einst dienstältesten DDR- Diplomaten und heutigen Rentner, „geht es nicht um die Rechtfertigung der DDR-Außenpolitik“. Sondern darum, die Bedingungen zu beleuchten, unter denen diese stattfand: Ex-Diplomaten der DDR „forschen“ über Ex-Diplomaten der DDR.

Gerhard Kurth ist an diesem Donnerstag um allergrößte Objektivität bemüht, nur ja kein wertendes Wort, nur nicht interpretieren. Manchmal aber kommen Sätze wie dieser: „Wir haben die Revolution in Kuba zunächst mit Skepsis verfolgt, denn ihre Durchführung entsprach nicht vorherrschenden Klischeevorstellungen.“ Gerhard Kurth wurde 1963 nach Havanna entsandt – „nicht aus missionarischem Eifer, sonden um die Entwicklung zu verfolgen und zu analysieren“.

Wer waren wir?“

Nach Kurths Stippvisite in Lateinamerika erhält Ingrid Muth, 55, das Wort. Sie bezeichnet sich geschlechtsneutral als „Journalist“ und hat in der Pressestelle des „Aumi“ westdeutsche Zeitungen und die Rapporte der Diplomaten ausgewertet. Heute skizziert sie die „Außenpolitik im Herrschaftssystem der DDR“. Und formuliert doch Fragen, die immer vom guten Willen der DDR-Diplomaten ausgehen: „Was ist aus den Ansprüchen der DDR-Außenpolitik geworden?“ „Wo lagen die Grenzen der Möglichkeiten?“ „Welche Chancen blieben ungenutzt?“ Und: „Warum haben wir Entscheidungen mitgetragen, obwohl wir wußten, daß sie nicht im Interesse der DDR lagen?“

Ingrid Muth, arbeitslos, will herausfinden: „Wer waren wir?“ Sie wird für ihre Veröffentlichung mehrere hundert ehemalige DDR-Diplomaten befragen: ob und wie „Formen geistiger Manipulation“ wirkten, wie weit „diese Dinge das Berufsethos beeinflußten“ und „wie frei man war“. Der anschließenden Diskussion vorgreifend, attestiert Muth sich Mut: „Dieses Thema ist bestens geeignet, sich zwischen alle Stühle zu setzen.“

Und tatsächlich sticht sie in alte Wunden. Die Reaktionen ihrer Ex-Kollegen reichen von Zurückweisung bis Rechtfertigung: Sie solle ja „differenziert“ an ihre Fragebogenaktion herangehen. „Fremdbestimmung und Privilegien sind doch stinknormale Dinge im diplomatischen Dienst. Das ist in allen Länder so“, sagt Arne Seifert, 57, leicht unwirsch. Joachim Mitdank, 62, arbeitslos, ist dafür, in der Veröffentlichung auch „die makabre Abwicklung“ der DDR- Diplomatie zu dokumentieren. Und Siegfried Bock vermißt in Muths Thesen das nötige Quantum an Neutralität: „Wir müssen diesen Dingen einfach unvoreingenommener nachgehen. Es war schließlich unser Leben.“ Ingrid Muth wundert das Verhalten der fünf Männer keineswegs. Sie deutet es so: „Irgendwo schleppen wir alle noch unsere DDR-Eierschalen mit uns rum.“

Man einigt sich schließlich darauf, alles noch mal zu überdenken. Spätestens bei dieser Übereinkunft hat das Treffen etwas Kafkaeskes: Da reflektieren ehemalige Diplomaten nach Art eines Soziologieseminars ihr Leben – und eigentlich interessiert sich niemand für ihre Antworten.

Allen sechs macht die große Isolation zu schaffen. Damit sie nicht ganz in Vergessenheit geraten – und um sich zu vergewissern, daß sie noch da sind –, haben sie diesen Debattierclub gegründet. Aber auch, um in Würde alt zu werden. „Ich versuche, so meinem Leben einen Sinn zu geben “, sagt Mitdank, zuletzt Botschafter in London.

Das „eigentliche Problem“ sei, daß es „keine Möglichkeit der sinnvollen beruflichen Tätigkeit“ gebe. Dieses „Schicksal“ teile er übrigens mit Millionen Menschen im Osten – und tut so, als hätte die Diplomaten mit einem Nettolohn von 2.100 Mark nie etwas vom SED-Volk (Durchschnittsverdienst in den achtziger Jahren: rund 1.100 Mark) getrennt.

Erfolglose Bewerbungen bei Bonner Ministerien

Richtig traurig wirkt Arne Seifert, er ist arbeitslos. Fünf Jahre repräsentierte er seine Heimat in Kuwait City – bis ein Telex ihn davon unterrichtete, daß sein Arbeitgeber, die DDR, nicht mehr ist. „Ich habe meinen Beruf geliebt. Ich hatte den Puls an der Hand anderer Völker.“ Das Schlimmste ist für ihn, „daß ich nicht mehr gebraucht werde“. Erfolglose Bewerbungsbriefe an Bundesaußenminister Klaus Kinkel und das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit haben sein „Gefühl der Ausgegrenztheit“ noch gefördert.

Als Seifert vor zwei Jahren in Moskau war, wurde ihm „die Tragik des Zusammenbruchs des Sozialismus schlagartig klar“. So schlagartig, daß er in seinem Hotelzimmer weinen mußte.