: Neue Hoffnung im Sechserpack
Nach dem 6:1 gegen die desorganisierten Kameruner bleibt Rußland eine Chance / Mit fünf Toren in einem Spiel stellt Salenko den WM-Rekord Schiaffinos aus dem Jahr 1950 ein ■ Aus Palo Alto Matti Lieske
Man stelle sich vor, die deutsche Delegation wäre ohne Matthäus, Klinsmann, Häßler, Sammer und Kohler zur Weltmeisterschaft in die USA gereist, dafür aber mit Rolf Schafstall als Trainer. Dann hätte man ungefähr die Situation des russischen Teams. Der russische Schafstall heißt Pawel Sadyrin, sieht fast genauso aus wie Berti Vogts und redet auch ähnlich trocken daher. Dies soll aber nicht der Grund sein, jedenfalls nicht der einzige, warum ihn Spieler wie Kirjakow, Dobrowolski, Kolywanow, Shalimow oder Kantschelskis derart verabscheuen, daß sie lieber auf eine WM verzichten als sich wochenlang seiner Knute auszusetzen.
Der Boykott der ersten Garnitur schien kurz vor Ende der Vorrunde seine erwarteten Folgen gezeitigt zu haben. Mit null Punkten und 1:5 Toren saßen die Russen auf gepackten Koffern und wollten nur noch das letzte Gruppenspiel mit Würde über die Runden bringen. Sogar das letzte Training wurde gestrichen, stattdessen durften die Spieler an den Strand und sich bei einer lockeren Beach-Volleyball-Partie die nötige Spritzigkeit für das Match holen. Nicht im Traum dachten die Russen daran, daß sie die für eine Qualifikationschance notwendige Torflut erreichen könnten.
Doch sie hatten die Rechnung ohne ihren Gegner gemacht. Der hieß Kamerun, und gegen die Afrikaner hatte die damals zumindest noch fußballerisch intakte Sowjetunion schon vor vier Jahren in Italien mit 4:0 gewonnen. Und das war die starke WM der Kameruner. 1994 kam deren schwache, und auch die inzwischen eingeflogenen Dollars änderten nichts an der reichlich chaotischen Präsentation der Fußballwunderkinder von 1990. Statt des vom Verband kaltgestellten Rebellen Joseph-Antoine Bell („Sechs Tore sind gut für den Fußball, aber schlecht für Torhüter“) stand der flatterhafte Jacques Songo'o im Tor, der von seiner Abwehr des öfteren schmählich im Stich gelassen wurde.
„Wir haben den Russen zu viel Freiheit gegeben“, klagte Kameruns Trainer Henri Michel nach dem deftigen 1:6, „und diese haben sie weidlich genutzt.“ Mit Freiheit können die Erben des verstorbenen Sozialismus inzwischen gut umgehen, nachdem sie die Planwirtschaft endgültig über Bord geworfen haben, wie Mannschaftskapitän Viktor Onopko verriet: „Wir hatten nicht geplant, so viele Tore zu schießen, aber das Verständnis war hervorragend.“
Sadyrin hatte ein junges Team (Durchschnittsalter: knapp 25) aufs Feld geschickt, dem die vielbeschworene internationale Erfahrung eindeutig fehlte. Zusammen hatten die elf Akteure 121 Länderspiele absolviert, gerade mal sechs mehr als Lothar Matthäus ganz alleine.
Zusätzlich motiviert durch heimatliche Presse-Spekulationen, „wieviele Tore Kamerun wohl gegen uns schießen würde“ (Sadyrin), nutzten die Russen jedoch die Schwächen ihrer Gegner erbarmungslos aus, was vor allem an der hundertprozentigen Treffsicherheit des 24jährigen Oleg Salenko lag. Fünfmal schoß er aufs Tor, fünfmal landete der Ball im Netz, weshalb er fand: „Es war einfacher als jeder Dopingtest.“
Damit stellte der beim FC Valencia tätige Stürmer, der bis zur WM fünf torlose Länderspiele aufzuweisen und beim 1:3 gegen Schweden sein erstes Tor für Rußland erzielt hatte, den bislang bei der uruguayischen Stürmerlegende Schiaffino befindlichen WM-Rekord ein.
Der damals beste Linksaußen der Welt schaffte sein Kunststück am 2.Juli 1950 beim 8:0 über Bolivien. Jeweils vier Treffer in einem WM-Spiel gelangen nur dem Portugiesen Eusebio (1966 beim 5:3 gegen Nordkorea), dem Jugoslawen Bajevic (1974 beim 9:0 gegen Zaire) und Emilio Butragueno (1986 beim 5:1 gegen Dänemark) aus Spanien. Zudem schaffte er in der ersten Halbzeit den ersten Hattrick dieser WM.
Auf seinen möglichen sechsten Treffer verzichtete Salenko („Ich bin kein Wundermann“) hochherzig und leitete den Ball per Kopf zu Radschenko weiter, der Songo'o zum 6:1 überwand. „Torjäger schienen schon eine aussterbende Gattung zu sein“, jubelte Diario 16, „als Oleg Salenko wie ein Falke durch den Strafraum schwebte.“
Der Kameruner Gegentreffer war keinem Geringeren als Roger Milla vergönnt. Mit der ersten Ballberührung nach seiner zur Halbzeit erfolgten Einwechslung verkürzte der 42jährige zum 1:3, versetzte die 74.914 Zuschauer in eine flüchtige Ekstase und bewies auch fortan, daß er immer noch der gefährlichste Angreifer seines Teams ist, auch wenn er die Personality-Show ein wenig übertrieb.
Der kurz aufkeimenden Hoffnung der Kameruner machte Salenkos 4:1 endgültig den Garaus und nun merkte auch Pawel Sadyrin, daß das Erreichen des Achtelfinales keine Utopie mehr war. Mit dem Aufholen von fünf Toren Differenz taten die Spieler ihren Teil und mußten auf die Ergebnisse der Gruppen D und F harren, um zu erfahren, ob ihnen noch einige Partien Beach-Volleyball bevorstehen.
„Kein Team hätte heute besser spielen können als das mit den Leuten, die hier sind“, wies Oleg Salenko jeden Gedanken an die Boykotteure weit von sich. Im Moment weint ihnen niemand eine Träne nach, aber leider heißt der potentielle Gegner in der nächsten Runde mit Sicherheit nicht Kamerun.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen