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Selbstmord im Reformknast

■ Bei Bränden in der Jugendstrafanstalt Hameln kamen zwei Gefangene ums Leben, ein Dritter ringt mit dem Tode

Hannover (taz) – Der neunzehnjährige Markus schwebt weiter in Lebensgefahr. Sein Zustand ist äußert kritisch. Maik, sein 16jährige Freund, konnte schon in der Nacht zum Sonntag nur tot aus der völlig verqualmten gemeinsamen Zelle geborgen werden, ebenso wie der 20jährige Michael. Die drei hatten im niedersächsischen Jugendgefängnis Hameln- Tündern ihre Jugendstrafen zu verbüßen, in einer der „modernsten Jugendanstalten Europas“, wie es der Pressesprecher des niedersächsischen Justizministeriums sagt. Die Jugendanstalt in Hameln ist ein Reformgefängnis. Auf den ersten Blick erinnert die weit auseinandergezogene Anlage mit ihren pavillonartigen Häusern, den Sportanlagen, Grünflächen und Teichen dazwischen eher an eine Schule. Auf 520 Insassen kommen 320 Anstaltsbedienstete. In Haus 6 etwa, in dem die Jugendlichen mit den größten persönlichen Problemen untergebracht sind, ist für je acht Jugendliche ein Psychologe, Pädagoge oder Sozialarbeiter zuständig.

Der 16jährige Maik hätte im Herbst seine zweijährige Jugendstrafe wegen schweren Diebstahls hinter sich gebracht. Der 19jährige Markus sollte schon in gut vierzehn Tagen entlassen werden. Mitte Juni hatte er dem Leiter des Hauses 6 in einem Brief angekündigt, er werde sich bei seinem ersten Haftausgang von einem Hamelner Hochhaus stürzen. Danach mußte er die Nächte in einer leeren Beruhigungszelle verbringen und wurde jeden Abend einer Leibesvisitation unterzogen. Schließlich bat er selbst, mit Maik zusammengelegt zu werden. Daß auch der 16jährige Maik schon früher als Heimkind gezündelt hatte, erfuhr die Anstalt erst nach dessen Tod. Auch jetzt hat die Hamelner Anstaltsleitung wieder eine Reihe von Jungendlichen aus Haus 6 abgesondert: Sie fürchtet die Brandstiftungen könnten weiter Nachahmer finden.

Daß Michael Selbstmord begehen wollte, scheint sicher. Nach dem ersten Brand hatte man mit allen gefährderten Jugendlichen Einzelgespräche geführt, auch mit dem 20jährigen Michael, der nach einem Angriff auf einen Mitgefangenen in Einzelhaft genommen worden war. Michael dichtet vor seinem Freitod alle Ritzen seiner Zelle mit Papier ab, entfachte das Feuer mit zwei Drähten eines elektrischen Gerätes.

„Ich fühle mich in meiner Arbeit einfach ohnmächtig, wie jemand der gegen einen nicht aufzuhaltenden Riesenstrom schwimmt“, sagt der stellvertretende Anstaltsleiter Jörg Jesse. „Auch wenn es für Außenstehende zynisch klingen mag“, der gelernte Psychologe bezweifelt, daß Maik und Markus tatsächlich sterben wollten. Vier- bis fünfmal jährlich werde in Hameln in einer der Zellen Feuer gelegt, und im vergangenen Jahr hätten alle zündelnden Jugendlichen gerettet werden können. Auch Maik und Markus hätten sich, als dann nach mehreren Versuchen die schwer entflammbaren Matratzen tatsächlich brannten, in den Duschraum ihrer Zelle geflüchtet. Das Zündeln sei meist ein völlig irrationaler Protest, sagt Jesse, dann sei etwas los, Gejohle an allen Fenstern, wenn die Feuerwehr käme.

Allerdings konstatiert Jörg Jesse auch unumwunden, daß sich die Situation in der Hamelner Anstalt in den letzten Jahren kontinuierlich verschlechtert hat. Man habe 100 Jugendliche mehr als früher, und diese hätten in der Regel auch gravierendere Straftaten begangen. „Heute wird eben nicht mehr so leicht Jugendstrafe ohne Bewährung verhängt“, sagt der stellvertretende Anstaltsleiter. „Bei uns finden sie alle Jugendprobleme dieser Gesellschaft wieder, allerdings riesenhaft vergrößert: Drogen. Gewalt, Rechtsradikalismus, Konflikte mit Ausländern, Perspektivlosigkeit, Demotivation“, fährt er fort. Die beiden Gefangenen, die umgekommen sind, und den dritten, der mit dem Tode ringt, zählt Jesse zu den „Unterdrückungsopfern“ der auf roher Gewalt beruhenden Knasthierarchie. Jürgen Voges

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