In Japan regiert ein Pazifist

■ Sozialdemokrat Murayama wurde mit Hilfe der Liberaldemokraten Regierungschef

Tokio (taz) – „Das hat es noch nie gegeben“, staunte der frischgewählte Premierminister, und die Japaner mußten ihm zustimmen. Die meisten Bürger hätten nicht im Traum daran gedacht, daß ihnen noch der Mittwoch einen neuen Regierungschef bescheren würde, und noch dazu einen, der den meisten von ihnen bisher allenfalls aufgrund seiner buschigen Augenbrauen und der langen Haarsträhnen aufgefallen war. Dennoch gibt es keinen Zweifel: Seit gestern regiert der Sozialdemokrat Tomiichi Murayama, 70, die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. In einer Kampfabstimmung im Tokioter Parlament war er dem in letzter Minute berufenen Kandidaten der Regierungskoalition, Ex-Premier Toshiki Kaifu, mit 261 zu 214 Stimmen überlegen. Damit war der zweite Regierungswechsel in Japan innerhalb eines Jahres perfekt. Im vergangenen Sommer hatte eine neokonservative Sieben-Parteien-Koalition die zuvor 38 Jahre ununterbrochen regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) abgelöst.

Unvorstellbar war bislang nicht nur, daß ein ausgewiesener Linker eines Tages Japan regieren würde. Denn Tomiichi Murayama ist Verfassungspatriot, Gewerkschaftsführer und Pazifist in einer Person. Noch paradoxer erscheint in japanischen Augen, daß mit Murayamas Wahl ausgerechnet die diskreditierte LDP an die Macht zurückkehrt. „Ich höre bei uns seit langer Zeit erstmals wieder Lachen und Applaus“, freute sich LDP-Generalsekretär Yoshiro Mori. „Wir wollen jetzt den Bürgern eine neugeborene LDP vorstellen.“

Tatsächlich war die Wahl des sozialdemokratischen Parteichefs Murayama zum Nachfolger von Premierminister Tsutomu Hata nur mit den Stimmen der bisher größten Oppositionspartei möglich, die über 206 Sitze im Tokioter Parlament verfügt, während der nunmehrige Koalitionspartner, die Sozialdemokratische Partei Japans (SDPJ), nur 74 Mandate zählt. LDP und SDPJ hatten sich gestern auf Murayama als Spitzenmann geeinigt, nachdem alle Versuche zwischen der SDPJ und der bisherigen Regierungskoalition, eine gemeinsame Koalitionsvereinbarung vorzulegen, gescheitert waren. Aus wahltaktischen Gründen hatte sowohl eine Mehrheit unter den Sozialdemokraten als auch in der Koalition eine Zusammenarbeit befürwortet. Doch zuletzt überwogen inhaltliche Differenzen in der Außen- und Steuerpolitik. Die Sozialdemokraten bestanden darauf, die Forderung Japans nach einem ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat aufzugeben und eine vorgesehene Erhöhung der Mehrwertsteuer zu unterdrücken. Demgegenüber stimmte die LDP einem vor wenigen Tagen von den Sozialdemokraten vorgelegten Regierungsprogramm kurzerhand zu, um ihre Odyssee in der Opposition möglichst rasch zu beenden. Die Regierungsparteien zeigten sich dennoch als gute Verlierer: „Es gibt keinen Grund, niedergeschlagen zu sein“, sagte der Sprecher der Erneuerungspartei, Kozo Watanabe. „Ganz im Gegenteil gibt auch diese Wahl der japanischen Politik eine neue Perspektive. Denn keine Partei bleibt nunmehr ewig an der Regierung, und keine Partei ewig in der Opposition.“ Mit vielen unabhängigen Beobachtern stimmte Watanabe darin überein, daß die ungewöhnliche Allianz zwischen Liberal- und Sozialdemokraten, die sich über 40 Jahre lang als politische Gegner betrachtet hatten, nicht lange halten werde. Georg Blume

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