Das leise Lied vom Aufruhr

Daß Anneken starb, war nichts Besonderes. Alle Tag starb jemand in den nassen Löchern unter den Häusern der Handwerker am Hamburger Burstah. Vor allem im Frühling des Jahres 1576. Ständig war Sturm, und Hochwasser ließ die Keller vollaufen wie die alten Tonnen im Stadtgraben. Die Nacht auf der Straße zu verbringen war nicht erlaubt. Die Wächter machten ihre Runde und scheuchten die Hungerleider, Tagelöhner und Mägde mitsamt ihrer Brut in die düsteren Höhlen, deren Feuchte bis in den Sommer hinein jedes wärmende Feuer ersticken würde.

Anneken starb nur ein paar Minuten nach dem mageren Kind, das sie am heiligen Freitag vor Ostern geboren hatte.

„Karfreitag ist immer ein schlechtes Omen“, sagte Margarete aus dem Nachbarkeller, „nun ist es eben ausgelitten.“

Sie wickelte sich in das letzte trockene Tuch und die tote Anneken mitsamt ihrem toten Kind in die klebrigen Lumpen, die das Sterbebett gewesen waren. Was sollte man tun? Leicht gesagt, daß die Menschen schön und sauber vor Gottes Richterstuhl treten sollten! Annekens Kleid aus blauem Tuch mit feinen grauen Streifen war längst gegen eine Kumme Roggen und eine Karre Holz verhökert worden.

„Dummes Gör“, murmelte Margarete zornig und schnürte ein Stückchen Hanf um Lumpen, Mutter und Kind, „als ob je ein Reicher ein armes Ding glücklich gemacht hätte!“

Ihren letzten Platz bekam Anneken auf dem Friedhof vor dem Wall. Das Loch in der Erde war schnell zugeschaufelt, und der Nordwest jagte den Pastor und die wenigen Nachbarn, die zur letzten Ehre gekommen waren, schnell zurück in die Stadt. Geweint hatte niemand.

Auch der Junge weinte nicht. Er wußte nicht, wie das geht. Aber als alle weg waren, stand er noch auf der nassen Erde. Stand einfach da, fühlte nicht den Wind, sah nicht die untergehende Sonne und die Masten auf der Elbe, deren Spitzen sich wie ein lautloser, staksiger Wald hinter der Schaar gegen den Himmel abzeichneten.

Schließlich begann er zu singen, zittrig zuerst, doch dann klang seine rauhe Kinderstimme klar und fest. Er hätte gern ein frommes Lied gesungen. Eins von Engeln und grünen Auen im Himmel. Aber ihm fiel keines ein. Auch war ihm nicht fromm zumute, und so sang er seiner Schwester zum Abschied vom Leben der Korsaren. Ein verbotenes Lied von Aufruhr und Totschießen, Säbelhieben und Kaperei gegen die hanseatischen Pfeffersäcke. Zu seinem Glück hörte ihn niemand.

„Vorsicht, Herr!“, schrie eine helle Stimme. Dann fühlte Claes Hermanns einen kräftigen Schubs und fand sich auf der Erde wieder.

„Was zum Teufel...“ schimpfte er, aber da raste mit kreischendem Getöse ein herrenloser Karren an ihm vorbei, polterte den abschüssigen Weg hinunter auf den Kai, zerschlug donnernd die Holzrampe und stürzte mit seiner Fracht, drei großen Tonnen Bier, in die Elbe. Hermanns wurde blaß. Er war ein kräftiger Mann, noch in den besten Jahren, und es hieß, er habe auf seinen Reisen manchen Räuber in die Flucht geschlagen und daß er weder Tod noch Teufel fürchte. Doch der Karren hätte ihm alle Knochen zerschlagen, und er erinnerte sich gut an das jämmerliche Ende des Ratsherrn Sögel, dem ein wildgewordener Hengst die Beine zerschmettert hatte.

„Verzeiht den Stoß, Herr“, sagte die Stimme, „der Karren...“ Hermanns rappelte sich auf und sah sich nach seinem Retter um. Ein Junge. Zerlumpt, aber offensichtlich kräftig. Er fühlte den Stoß ja noch im Rücken.

„Das war knapp“, sagte Hermanns, „du hast wache Augen.“ Der Junge sah ihn an, und Hermanns nahm etwas eigenartig Vertrautes wahr. Unsinn, dachte er, ein Tagelöhner, ein Hafenkind. Aber wach. Und er kramte in seinem Rock nach einem Kreuzer für seinen Lebensretter. „Wie heißt du? Wer sind deine Eltern?“

„Jan, Herr“, antwortete der Junge und sah ihn aufmerksam an. „Ich bin Jan vom Burstah. Ich hab' keine Eltern.“

Wer die Bremssteine von den Rädern des Karrens genommen hatte, konnte später niemand sagen.

Claes Hermanns galt als gottesfürchtiger und gerechter Mann, und die Leute sagten, daß er den Lohn dafür wahrlich schon im Leben erhalte. Seine Segler fuhren nicht nur bis nach Flandern, Schonen und Amsterdam, sondern weiter bis nach Frankreich und nach Santander an der spanischen Küste. Die besten Kapitäne führten seine Schiffe, noch nie war ihm eine Fracht verlorengegangen. Er exportierte das begehrte hamburgische Bier. Seine Hopfengärten hinter dem Eichholz gediehen, die Malzpfannen in seinen Brauhäusern waren Tag für Tag unter Feuer, und nur die beste Gerste aus dem Holsteinischen war ihm gut genug. Seine Schiffe verließen den Hafen bis an die Luken gefüllt mit Fässern, beladen mit kostbaren Waren aus südlichen Ländern kamen sie zurück.

Hermanns war geachtet. Wegen seines wachsenden Reichtums, und weil sein Haus ein ordentliches Haus war. Selbst seine Küchenmägde waren immer in reines Tuch gekleidet, blau mit feinen grauen Streifen. Er achtete streng auf Sitte und Anstand. In seinem Kontor in dem großen Haus an der Steinstraße empfing er Händler aus ganz Europa. Seine Hausfrau hatte er klug gewählt. Das Beste an ihrer Mitgift waren die guten Handelsbeziehungen ihrer flämischen Familie gewesen. Als sie im vergangenen Winter am Pyp, dem spanischen Fieber, starb, hatte er ihr ein Begräbnis ausrichten lassen, dessen Pracht jeder Hochzeit zur Ehre gereicht hätte.

In seinem Kontor beugten sich nur die besten Schreiber über Verträge, Lieferlisten und Abrechnungen, jüngere Söhne aus guten Familien; ohne Aussicht auf ein Erbe, aber mit solidem hanseatischem Ehrgeiz.

Jan fügte sich lautlos in diesen Haushalt ein. Sie gaben ihm saubere Kleidung, für die Nacht einen Platz am Feuer, und er hatte nun nie mehr Hunger. Er Hermanns' Bier nun nicht mehr.

„Der Teufel macht's“, sagten die Leute. „Oder Gott. Wie bei Hiob.“

„Einer, der mich ruinieren will, macht's“, sagte Hermanns und machte heimlich einen Plan.

Die Nacht neigte sich schon dem Morgen zu, als er die Knechte endlich hörte. Sie kamen durchs Kontor und drängten sich in seine Schreibstube.

„Hier ist er, Herr“, sagte der älteste, „wir haben ihn erwischt. Einen ganzen Beutel voll mit schimmligem Brot hatte er auf der Schulter. Wollte auf dem Schonen-Segler gerade das erste Faß aufmachen und den Schiet reinbröseln.“

Mit einem heftigen Stoß schubste er den Jungen ins Licht.

Erschrocken wich Hermanns zurück. „Nein“, rief er, „du doch nicht!“ Zornröte stieg ihm ins Gesicht. „Ihr Tölpel“, schrie er, „das ist doch Jan!“

„Ja, Herr. Das ist Jan. Der hat Euer Bier verdorben. Und wer weiß, was sonst noch.“

Hermanns setzte sich schwer auf die Bank hinter dem großen Tisch. „Warum, Junge? War ich dir nicht ein guter Herr? Habe ich dir nicht zu essen gegeben, dich nicht das Schreiben gelehrt? Du gehörst doch zu meinem Haus, als wärst du darin geboren.“

Jan schwieg. So sehr sie sich auch mühten, er nannte niemanden, der ihm aufgetragen hatte, dem Handelsherrn Claes Hermanns Geschäfte zu verderben.

Er schwieg auch auf der Streckbank und als die glühenden Zangen sich zischend und stinkend in sein Fleisch fraßen. Nur einmal habe er geschrien, wurde Hermanns berichtet. „Anneken!“ habe er gebrüllt. Da sei einer noch fast ein Kind und schreie in höchster Not nicht zu Gott, sondern nach der Liebsten. Als sie ihn von der Streckbank nahmen und mit kaltem Wasser übergossen, habe er noch etwas herausgestöhnt. Das klang wie: „Er muß doch büßen.“ Oder so ähnlich.

Der Pfarrer, der die ganze Zeit dabeigestanden hatte, damit die Seele nicht ohne christlichen Beistand zum Teufel entfloh, hatte triumphiert. Auch wenn der junge Sünder sein Geheimnis behielt, so schien er am Ende doch zu bereuen.

Hermanns nickte nur dazu. Anneken? Das war doch schon so lange her. Er sah alt aus an diesem Tag, und die ganze folgende Nacht hindurch brannte in seiner Stube die Kerze. Noch bei seinem letzten Rundgang kurz vor Sonnenaufgang sah der Nachtwächter seien Schatten hinter dem Fenster.

Am Morgen ließ Hermanns den Bader kommen. Ihm war übel, und sein Kopf schmerzte, als ob er platzen wolle. Der Aderlaß brachte ihm keine Erleichterung, selbst der bittere Sud bereitete ihm diesmal nur neue Übelkeit.

Das Gericht sprach das Urteil schnell. Auf ein so schweres Verbrechen konnte nur der Tod stehen. Einen Knaben hatten sie noch nie geköpft. Und auch wenn dieser schon fast ein Mann war, verboten sie dem Volk das grausige Vergnügen, das Schauspiel anzusehen.

Der Stundenrufer hatte längst die Mitternacht verkündet, als der Henker Jan in einer schwülen Augustnacht anno 1578 über die Trostbrücke zum Meßberg führte, zu dem kleinen Hübel aus Schutt von Generationen. Das Beil war gut geschärft und schnitt den Kopf beim ersten Hieb vom Körper. Der Kopf rollte davon, mitten hinein in das Gebüsch aus rotem, giftigem Fingerhut, der rund um den Hügel wuchs. Ein triumphierendes Lächeln soll das tote Gesicht gezeigt haben, erzählte der Knecht des Henkers am nächsten Tag in der Cremon-Schänke, aber das hat ihm keiner geglaubt.

Claes Hermanns ging nun wieder allein zur Börse. Aber nicht mehr lange. Immer häufiger rief er den Bader, immer mehr trank er vom Sud, der ihm früher so wunderbar geholfen hatte, aber nun nur noch bitter schien. Der Topf war gut gefüllt, das war Jans letzter Dienst gewesen, am Tag bevor sie ihn auf frischer Tat ertappt hatten.

Jetzt half auch der Sud nichts mehr. Hermanns' Atem ging immer schwerer, sein Herz langsamer. Übelkeit quälte ihn, und die Knochen seines Kopfes schienen viel zu eng. Er kämpfte drei Wochen, dann begannen die Krämpfe, und der Pfarrer kam zum letzten Gebet. Herr, Du meine Zuversicht. Hermanns' Lippen erstarrten. „Jan“, flüsterte er und umklammerte die trockene Hand des Pfarrers, „sag' Anneken...“ Das waren seine letzten Worte. Die hörte nur der Pfarrer, und der behielt sie für sich.

Achtzig Kutschen folgten dem sechsspännigen Leichenwagen. Und als sie die Marmoplatte auf das Grab in St. Petri legten, glaubten die Leute, die vor der Kirche auf ein Almosen der reichen Trauergäste warteten, im heulenden Wind ein Lied zu hören. Ein verbotenes Lied von Aufruhr und Totschießen, von Säbelhieben und Kaperei gegen die hanseatischen Pfeffersäcke.

Petra Oelker