Urteile im 15-Minuten-Takt

■ Schnellverfahren vor dem Bereitschaftsgericht gegen vietnamesische Zigarettenhändler / Geldstrafen, die für die Verurteilten ein Vermögen bedeuten

Mit rutschenden Hosen und offenen Schuhen stolpern die dunkelhäutigen Männer in den Raum. Gürtel und Schnürsenkel wurden ihnen abgenommen, damit sie sich nicht in der Zelle der Gefangenensammelstelle Gothaer Straße aufhängen. Die ärmlich gekleideten Menschen sind vietnamesische Asylbewerber. Sie sind vor einigen Stunden von der Polizei festgenommen worden, weil sie mit unverzollten Zigaretten gehandelt hatten. Jetzt werden sie nacheinander einem Bereitschaftsrichter vorgeführt. Der macht mit ihnen im Fünfzehn-Minuten-Takt kurzen Prozeß: Geldstrafen in der Höhe von 300 bis 375 Mark lauten seine Urteile, wenn die Beschuldigten geständig sind, keine Vorstrafen wegen illegalen Zigarettenhandels in ihren Strafregistern haben und die Schadenshöhe nicht Tausende von Mark umfaßt. Für die Männer, die mit einer Zahlkarte in der Hand in Freiheit entlassen werden, bedeutet die Strafe ein Vermögen.

Schnellverfahren gibt es schon lange. Bislang waren die Bereitschaftsrichter aber hauptsächlich für Bagatelldelikte wie Taschendiebstahl zuständig. Nach der Maueröffnung, als viele DDR- Bürger den Verlockungen der Kaufhäuser des Westens nicht widerstehen konnten, hatten die Bereitschaftsrichter Hochkonjunktur. Auf Veranlassung von Justizsenatorin Lore Maria Peschel- Gutzeit (SPD) gibt es seit kurzem auch für illegale Zigarettenhändler Schnellverfahren. Der Grund: Die Amtsrichter sind überlastet, weil allein zwischen September 1993 und Mai '94 rund 11.500 Ermittlungsverfahren in diesem Zusammenhang eingeleitet wurden.

Seit Anfang dieser Woche wurden dem 38jährigen Bereitschaftsrichter Leberecht Staupe insgesamt 14 vietnamesische Zigarettenhändler vorgeführt. Allein am Mittwoch verhandelte er fünf Prozesse in dieser Sache. Routiniert und in einem Tempo, als hätten sie in den vergangenen Jahren nichts anderes getan, zogen Staupe und die Vertreterin der Amtsanwaltschaft, Renecke, die einzelnen Verfahren gegen die Händler durch.

Um 15.25 Uhr wird als erster der 22jährige berufslose ehemalige Vertragsarbeiter Luu D. hereingeführt. Luu D. ist seit 1989 in Deutschland und gibt als Meldeadresse eine Anschrift in Freiberg/ Sachsen an und seinen Verdienst mit 600 Mark Arbeitslosenhilfe. Der Vater von zwei Kindern guckt betreten auf die Tischplatte, als die Amtsanwältin die Anklage verliest: In seinem in der Wuhlheide abgestellten Auto seien am Vortage gegen 19 Uhr 71.000 unverzollte Ziagretten gefunden worden, auf denen 18.622 Mark Steuerabgaben lasteten. Was er dazu zu sagen habe, fragt Richter Staupe. Luu D. runzelt die Stirn und antwortet leise, der Dolmetscher übersetzt: Er habe die Zigaretten „für jemanden“ für ein Entgeld von 200 Mark transportiert. Den Auftraggeber, dem er den Wagenschlüssel unter ein Rad gelegt habe, habe er nie gesehen. Aus dem Strafregister geht hervor, daß Luu D. schon einmal in Potsdam wegen Steuerhinterziehung verurteilt worden ist. Aber ob dies im Zusammenhang mit Zigarettenhandel geschah, wisse er nicht, sagt er. Staupe kommentiert die Gedächtnislücke mit den Worten: „Die sind nicht auf die Nase gefallen.“ Nach kurzer Rücksprache mit der Amtsanwältin Renecke ist für den Richter der Fall klar: In Ermangelung eines reumütigen Geständnisses, angesichts der Vorstrafe und wegen der „erheblichen Zigarettenmenge“ überstellt er Luu D. dem Staatsanwalt zur Beantragung eines Haftbefehls.

Um 15.50 Uhr betritt der 30jährige Nguyen den Raum. Er ist seit März diesen Jahres in Deutschland, in einem Heim in Halberstadt gemeldet. Als Beruf gibt er an, er sei in Vietnam sechs Jahre lang Polizist gewesen. Nguyen sagt, er lebe von 30 Mark Taschengeld im Monat. Er gesteht ohne Umschweife, am Tag der Festnahme gegen 9.45 Uhr in Hellersdorf mit 1.475 unverzollten Zigaretten, auf denen 387 Mark Abgaben lasteten, gehandelt zu haben. Nach dem Antrag der Amtsanwältin und kurzer Beratung mit sich selbst rattert Richter Staupe das Urteil herunter: 360 Mark Geldstrafe. Der Dolmetscher rattert in gleicher Geschwindigkeit mit.

In ähnlichem Stil geht es weiter. Um 16.15 und 16.37 Uhr sind zwei Reisbauern dran, um 17 Uhr ein Arbeiter. Alle sind seit kurzer Zeit in Deutschland, geben als Anschrift Wohnheime in den neuen Bundesländern an und ein monatliches Taschengeld von 80 Mark als Verdienst an. Auf Nachfrage des Richters zeigt sich, daß jeder von ihnen 5.000 Dollar für die Anreise nach Deutschland gezahlt hat; mühsam von der Familie zusammengespartes Geld.

„Am Anfang hatte ich noch Mitleid mit ihnen, jetzt ist es Routine geworden“, sagt der vietnamesische Dolmetscher. Er gibt offen zu, daß er ratlos ist. „Zu Hause wartet die Familie auf Geld aus dem gelobten Land, aber dort dürfen sie nicht arbeiten, und zurück können sie auch nicht, was sollen sie denn tun?“ Richter Staupe antwortet nach einer Gedankenpause keineswegs leichten Herzens: „Mitleid? – Ich bin an die Gesetze gebunden, ich kann doch nicht einfach sagen, der tut mir leid.“ Plutonia Plarre