Zwischenzeit in Sarajevo

Mit der kroatisch-muslimischen Koalition kommen auch kommerzielle Waren in die Stadt / Sogar die Kneipen sind voll / Doch Gerüchte über neue Kämpfe machen den Menschen Sorgen  ■ Aus Sarajevo Erich Rathfelder

Die Kellnerin im „Lora“, einem Hinterhofcafé nahe der Altstadt Sarajevos, ist gut gelaunt. „Schon morgens kommen Leute, um ihren ersten Kaffee zu trinken“, sagt sie. „Den ganzen Tag über sind unsere Tische besetzt. Und abends stehen die Gäste bis zur Sperrstunde um 22 Uhr fast auf die Straße hinaus.“

Ja, in Sarajevo wird gefeiert. Die neu gewonnene Ruhe, das Gefühl, endlich ohne Angst vor Artilleriegranaten auf den Straßen zu sein, treibt Zehntausende allabendlich in das alte Zentrum zum Spaziergang. Nach all den Monaten der Belagerung und des Krieges dominieren modischer Schick und gepflegtes Make-up das Straßenbild. Es wird gelacht, geflirtet und diskutiert. Die Bewohner geben der Stadt ihr vor dem Krieg so berühmtes Flair zurück.

Noch im Februar waren im „Lora“ lediglich einige mißmutige oder ernst dreinblickende Gestalten anzutreffen. Immerhin hatte das Café während des gesamten Krieges geöffnet, schien doch die Lage im Hinterhof Sicherheit vor den allgegenwärtigen Gefahren zu verbürgen. In den Straßen ringsherum zeugten damals lediglich die zerbrochenen Scheiben der Schaufenster davon, daß hier einmal eine Einkaufsgegend war. Mittlerweile hat so mancher Laden wieder geöffnet, ja selbst im staatlichen Bekleidungsgeschäft wird in Windeseile gehämmert, gesägt und geputzt. In den privaten Läden stapeln sich Paletten mit Getränken, mit Cola und Bier, mit Fruchtsäften und Milch, die zu international üblichen Preisen angeboten werden. Auf dem kaum 200 Meter entfernten „Makale“-Markt, auf dem damals, am 5. Februar, eine Granate ein Blutbad angerichtet hatte, stehen die Stände wieder in Reih und Glied. Männer schleppen in Kisten Bananen und Südfrüchte nach Hause, es gibt Käse, Butter und Brot. Sogar Blumen werden angeboten.

Die Menschen in Sarajevo atmen durch. „Es ist wie ein Wunder“, schmunzelt Fatma Hasimhodzić, die mit ihrem Mann im vierten Stock eines Hauses in der Nähe lebt, dessen Vorderseite von den Hügeln aus, dort wo die serbischen Stellungen waren, gut einsehbar ist. Eine sehr gefährliche Lage. „Aber wir haben es überstanden, nur der Dachstuhl ist einmal getroffen worden. Jetzt kann ich wieder kochen, wir haben sogar jeden zweiten Tag Wasser für zwei Stunden, und wir haben meistens Strom.“ Eines jedoch macht ihr große Sorgen. Wo soll sie das Geld hernehmen, um kaufen zu können, was so lange entbehrt werden mußte? „Unsere Ersparnisse sind aufgebraucht, ein Ei kostete ja noch vor kurzer Zeit 5 Mark, ein Kilo Kaffee über 100, und das Gemüse war unerschwinglich. Ab und zu mußten wir etwas auf dem schwarzen Markt einkaufen, von der internationalen Hilfe allein konnten wir nicht leben.“ Immerhin wollen die Söhne, die schon seit einem Jahr im Ausland leben, nun etwas Geld schicken. Denn seit einigen Wochen funktionieren Banküberweisungen wieder.

Plötzlich springen die Gäste auf. Auf der Straße ist ein lautes Geknatter zu hören. Ein Wartburg, der wahrscheinlich lange in der Garage gestanden hatte, ist zu einer Fahrt aufgebrochen. Der Motor revoltiert mit Fehlzündungen, die sich wie Schüsse anhören, gegen die ungewohnte Behandlung. Prustend biegen sich Gäste und Passanten vor Lachen, es ist zu komisch, wie die alte Knatterkiste allzu bekannte Geräusche produziert. Und als das Ding auch noch an der auf Rot geschalteten Ampel stehenbleibt und mit einer letzten Salve seinen Geist aufgibt, ist der Höhepunkt der Heiterkeit erreicht. „Wie man hört, fahren manche Autos wieder“, sagt einer der Umstehenden. Auch er habe seinen Jugo wieder funktionsfähig gemacht. „Das Benzin kostet jetzt 3,50 Mark pro Liter statt 25 wie vorher.“

Die Gäste im Café setzen sich und führen ihre Unterhaltungen fort. „Es ist ein dramatischer Wandel eingetreten“, erklärt Faruk in seinem frankfurterisch gefärbten Deutsch. Als Kind einer Gastarbeiterfamilie in Deutschland aufgewachsen, hatte er im Frühjahr letzten Jahres eine private Hilfsaktion gestartet und einen Kleinbus voller Medikamente und Lebensmittel ins zentralbosnische Zenica gefahren. Doch dann wurde der Zufahrtsweg durch den „Kroatischen Verteidigungsrat“ HVO geschlossen. „Ich saß in der Falle, konnte nicht mehr zurück. In Zenica habe ich bei humanitären Organisationen geholfen, bis ich hörte, daß der Zugang zu Sarajevo frei geworden ist.“ Zwar machte es im Mai für Muslimanen noch Schwierigkeiten, in die kroatisch kontrollierte Westherzegowina zu gelangen. „Doch ich habe es geschafft, die UNO kontrolliert jetzt ja die Kontrollstellen an den Straßen. In dem Geschäft eines kroatischen Bekannten, eines ehemaligen Arbeitskollegen meines Vaters, habe ich dann eingekauft, viel Zeugs, von Lebensmitteln bis zu Zahnpasta und Unterwäsche alles mögliche. Dann bin ich Richtung Sarajevo aufgebrochen.“

An der Demarkationslinie hätten die Herzegowiner Uniformierten einen Zoll verlangt. „Ich hatte Glück, mußte über die Gebühren hinaus nur 500 Mark Bestechung blechen. Andere haben mehr bezahlt, trotz der bosnisch-kroatischen Föderation.“ Doch abenteuerlich wäre die Fahrt erst geworden, als es von Konjić aus in Richtung Berg Igman über das bosnisch kontrollierte Gebiet ging. „Damals waren noch serbische Scharfschützen aktiv, sie konnten auf die Straße schießen, aber alles ging gut.“ Der Weg, der über den Paß am Berg Igman führt und dieser Tage als „sicher“ gilt, endet am Flughafen Sarajevos, der von den UN-Schutztruppen (Unprofor) besetzt ist. Über den „blauen Korridor“, die Piste des Flughafens hinweg, würde nun der Verkehr in die Stadt geschleust, erläutert Faruk. „Die Karadžić-Serben dürfen dafür den blauen Korridor von Ilidza nach Pale benutzen“, auf dem Flughafen kreuzten sich die Wege der Gegner in diesem Krieg. Aber immerhin, Lastwagen mit den kommerziellen Gütern könnten nun in die Stadt gelangen. Und er selbst hätte finanziell seinen Schnitt gemacht.

Die Unterhaltung bricht ab. Am Himmel verursachen einige F-16-Bomber der Nato einen Höllenlärm. Sie stoßen auf die Stadt hinunter, um nach einem Tiefflug wieder in den Himmel aufzusteigen. „Idioten, das sollten sie in der serbisch besetzten Zone machen, nicht hier“, ärgert sich Dunja, eine Journalistin einer Sarajevoer Wochenzeitung. „Die ganze Geschichte mit dem blauen Korridor zeigt nur, daß die Unprofor lange Zeit an der Blockade Sarajevos beteiligt war.“ Der von der UNO kontrollierte Flughafen hätte zwei Jahre wie ein Riegel zwischen der Stadt und dem angrenzenden bosnisch kontrollierten Gebiet gelegen. „Dabei sind das nicht mehr als 400 Meter. Im ersten Kriegswinter wurden sogar während der Nacht Suchscheinwerfer eingeschaltet, um Leute, die zu Fuß den Flughafen überqueren wollten, den serbischen Scharfschützen auszuliefern. Erst als unsere Leute den im Vorjahr gebauten Tunnel verbreiterten, wurde der blaue Korridor eingerichtet.“

Vier Männer nehmen Platz am Nachbartisch. Das braune Kamelhaarjackett des einen ist an den Achseln leicht ausgebeult. Ein Blick auf die teuren Klamotten reicht Faruk aus. „Die sind wie manche im Frankfurter Westend, das ist die Mafia, Muslime aus dem Sandžak“, flüstert er. Es ist still geworden im Café. Die Stereoanlage wird lauter gestellt. „Die kontrollieren den Geldmarkt und machen Geschäfte mit geschmuggeltem Fleisch.“ Wahrscheinlich hätten sie Wege durch die serbischen Linien gefunden, der Sandžak sei ja immer noch Teil Serbiens. Und Serben zu bestechen, das sei ja nicht schwer. „Immerhin haben die in den schwersten Zeiten der Blockade noch was durchgekriegt, auch Waffen.“

Alle sind erleichtert, daß die vier gegangen sind. Doch die gute Stimmung ist dahin. „Wir leben jetzt in einer Zwischenzeit“, sagt Eldar, der seinen Einberufungsbefehl in der Tasche hat. Mit der Bildung der neuen bosnisch-kroatischen Föderationsregierung sei die Möglichkeit, daß es zu einer neuen Runde des Krieges kommt, größer geworden. Seit letzte Woche Jadranko Prlić, der bisherige „Ministerpräsident“ des international nicht anerkannten Kroatenstaates Herceg-Bosna, zum Verteidigungsminister der Föderation ernannt worden sei, würden massiv Waffen in das Land geschafft. Eldar nestelt nervös an seinem Hemd und nippt an seinem Weinbrand. „Ich werde nach Brčko geschickt, in die Nähe Tuzlas, an den Korridor.“ Jeder in der Runde weiß, was dies zu bedeuten hat.

In Brčko befindet sich die schmalste Stelle des serbischen Korridors, der Belgrad mit den von Serben besetzten nordbosnischen Gebieten um Banja Luka und den serbisch besetzten Gebieten in Kroatien verbindet. Dort sind die Truppen des serbischen Nationalistenführers Karadžić aufmarschiert. Aber auch die bosnischen Truppen wurden hier verstärkt. Gelänge es den Bosniern, hier durchzubrechen und eine direkte Verbindung nach Kroatien herzustellen, wäre die „Wende im Krieg“ erreicht. „Dann könnte Bosnien-Herzegowina in seinen alten Grenzen wiederhergestellt werden“, erklärt Dunja. Alle die Diskussionen über 58 Prozent oder 51 Prozent Landfläche für die Föderation, wie sie jetzt international verhandelt würden, seien reine Spekulationen, „solange nicht der Korridor erobert wird. Erst dann würde Karadžić ernsthaft verhandeln müssen.“ Über zwei Millionen Menschen lebten in der kroatisch-bosnischen Föderation, dagegen nur noch um die 500.000 auf dem von Serben okkupierten Gebiet – das aber 70 Prozent der Fläche Bosniens umfaßt.

Derweil machen Gerüchte über den Rückzug der UNO-Truppen die Runde. „Die werden das Waffenembargo gegenüber Bosnien aufheben und sich gleichzeitig zurückziehen“, erklärt Eldar. Begeisterung über diese Perspektive will allerdings nicht aufkommen. Denn falls es in Brčko zum Kampf käme, würde auch Sarajevo wieder beschossen. Die Hoffnungen aller, endlich die Stadt verlassen und „Urlaub“ irgendwo am Meer machen zu können, sind ohnehin verflogen. „Trotz der Bildung der kroatisch-bosniakischen Föderation ist es für uns nicht möglich, nach Kroatien zu fahren.“ Busse verkehrten über den Berg Igman lediglich nach Mostar oder Zentralbosnien.

Es ist spät geworden, bald 22 Uhr. Die Kellnerin beginnt abzukassieren. Die Rechnung wird in DM bezahlt, der eigentlichen Währung Sarajevos. Und da es kein Kleingeld gibt, kann sich die Kellnerin über dicke Trinkgelder freuen. Sie bleibt als einzige an diesem Abend gut gelaunt.