■ Ein Jahr „Asylkompromiß“ und die Folgen: Fauler Kompromiß, leere Versprechen
Sommer und Wahlkampf – mit böser Regelmäßigkeit, so schien es jahrelang, ergeben beide Komponenten in Deutschland ein explosives Gemisch: die Asyldebatte. Wer wollte, konnte schon Monate vorher im Kalender ankreuzen, wann wieder „Asylantenfluten“ über Titelseiten und Rednerpulte geschwemmt würden. Diesen Sommer nun: wohltuendes Schweigen. Ausgerechnet im Superwahljahr 1994 ist das Thema Asyl kein Reizthema mehr. Eine denkwürdige Premiere, aber keiner mag sie feiern. Schließlich hat man das Ereignis einem 12 Monate zurückliegenden Todesfall zu verdanken. Zu Tode novelliert wurde das Grundrecht auf Asyl. Ein Jahr später zeigt sich: Zu Grabe getragen wurden auch all die Versprechungen, die Politiker damals in die Gruft hinuntersprachen. Mit einer Summe von Verheißungen hatte die Regierungskoalition die Grundgesetzänderung einer kritischen Öffentlichkeit angedient. Das „Ja“ der SPD wurde mit einem „Kompromiß“ erkauft. Doch von den Zugeständnissen, die zu einem Kompromiß gehören, wurde bisher kein einziges eingefordert, von den Versprechen nur ein einziges von der Realität auch gehalten.
Das oberste Versprechen lautete: den „unkontrollierten Asylbewerberzugang begrenzen“. Dieses eine Versprechen wurde tatsächlich eingelöst. Die Zahl der Asylbewerber ist seit der Verabschiedung des neuen Gesetzes um mehr als 60 Prozent gesunken. In den Monaten vor dem 1. Juli 93 meldeten sich monatlich 30.000 bis 40.000 Flüchtlinge als Asylsuchende in Deutschland. Nach der Gesetzesänderung ist die Zahl kontinuierlich gefallen. Inzwischen pendelt sie sich sogar um die 10.000er-Marge ein. 1994 werden maximal 150.000 Asylbewerber Zutritt auf Zeit bekommen. Kaum bemerkt werden gleichzeitig wieder 200.000 deutschstämmige Aussiedler das Recht auf Daueraufenthalt erhalten.
Doch Asyl-Statistiken sagen nur etwas über einen rechtlichen und sozialen Status aus, nicht aber über die Menschen. Keiner, auch nicht der jagdfiebernde Bundesgrenzschutz, weiß, wie viele Flüchtlinge seit Juli 93 illegal in die Bundesrepublik eingewandert sind. Niemand wagt zu schätzen, wie viele bei Verwandten und Bekannten untergetaucht sind. Die Asylrechtsänderung hat zwar die Sammelunterkünfte geleert und die Sozialhilfekassen gefüllt, die Einwanderung gestoppt hat sie jedoch nicht. Sie hat die Legalität zur Ausnahme gewandelt, die Illegalität zur Regel. Paradox: Was die Grundrechtsänderung bekämpfen wollte, hat sie nun erst geschaffen – eine tatsächliche Einwanderung. Denn die erzwungene Illegalität hat deutlichere Züge einer selbstverständlichen Migration als der Asylstatus mit seiner Zwangskasernierung und staatlichen Alimentierung: für die Bevölkerung ist sie weniger sichtbar und sozialverträglicher, für die Staatskassen ist sie zum Nulltarif. Nur die Betroffenen zahlen einen Preis, den der Angst vor Entdeckung und Abschiebung.
Versprechen Nummer zwei lautete: den „inneren Frieden“ des Landes wahren. Die Asylrechtsänderung hat zwar den selbstentfachten Krieg in der Öffentlichkeit befriedet, die Langeweile und den Frust dumpfer Stammtischrunden jedoch erst aufgestachelt. Fremdenfeindliche Morde, Überfälle, Diffamierungen haben seitdem nicht abgenommen. Sie sind nur so erschreckend normal geworden, daß sie kaum noch in Schlagzeilen und Statistiken taugen.
Versprechen Nummer drei: „Wirklich“ politisch Verfolgte genießen auch weiterhin Asyl. Das Recht auf Asyl steht zwar weiterhin in der Verfassung, aber aus dem Grundrecht ist eine Glückslotterie geworden: Noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik hat die politische Verfolgung bei der Asylgewährung eine so nichtige Rolle gespielt wie jetzt. Nach der Verfassungsänderung zählt der Fluchtweg mehr als der Fluchtgrund: 348.000 Asylbewerber hat das Bundesamt im letzten Jahr zurückgewiesen. Fast die Hälfte der Anträge wurde als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Nichtbefassung, weil sie von Flüchtlingen stammten, die aus „verfolgungsfreien“ Herkunftsländer kamen oder über einen „sicheren Drittstaat“ auf deutschen Boden gelangten. Wie viele Flüchtlinge deshalb ohne Entgegennahme ihres Asylgesuchs zurückverfrachtet wurden, ist statistisch gar nicht erst erfaßt. Die Verfassungsänderung hat aus dem Asylrecht ein nahezu europäisches Privileg gemacht: 62% der Asylbewerber kommen derzeit aus Europa.
Wer fremd ist in Deutschland, das Rechtssystem nicht kennt, keine Freunde oder Verwandte hat, die innerhalb von wenigen Tagen einen Rechtsanwalt auftreiben, hat kaum noch Chancen auf gewissenhafte Prüfung seines Schicksals. Das neue Asylrecht überrumpelt und überfordert ihn mit Ad-hoc-Anhörungen unmittelbar nach der Ankunft, mit undurchsichtigen Strukturen und kaum einzuhaltenden juristischen Fristen. Der Verfassungsgrundsatz: „Politisch Verfolgte genießen Asyl“, ist zum Fast-food-Verfahren degradiert: „Noch nie zuvor“, so bilanziert der Deutsche Caritasverband, „hat es bei den Asylverfahren so viele Unregelmäßigkeiten, persönliche Härten und Streßsituationen gegeben.“ Ausdruck der Härten und Unregelmäßigkeiten: Seit das neue Asylrecht in Kraft ist, wurden fast doppelt so viele AusländerInnen abgeschoben wie im Jahr zuvor: 37.000 waren es 1993. Zwar steigt seitdem auch die Zahl der asylrechtlichen Anerkennungen wieder an. Mit knapp über sechs Prozent liegt die Quote aber weit unter der der 80er.
Versprechen Nummer vier: Bürgerkriegsflüchtlinge sollen einen Sonderstatus bekommen, der sie aus dem für sie unsinnigen Asylverfahren befreit. Dieses Versprechen hatte gerade die SPD zur Vorbedingung für ihre Zustimmung zum „Asylkompromiß“ gemacht. Doch auch nach einem Jahr steht der Bürgerkriegsstatus nur auf dem Papier. Bund und Länder konnten sich bisher nicht auf ein Prozedere einigen und streiten nach wie vor über die Finanzierung.
Versprechen Nummer fünf: Die Grundgesetzänderung macht den Weg frei für ein Einwanderungsgesetz und für die Diskussion über eine neue Flüchtlingspolitik. Auch dieser Punkt gehörte zum Verhandlungspaket der SPD. Doch die Sozialdemokraten haben es versäumt, ihr Ja zum Asylkompromiß an schriftliche Zusagen der Regierungskoalition zu koppeln. Nach einem Jahr steht die SPD nicht nur mit leeren Händen da. Sie hat offenbar auch verdrängt, für welchen Preis sie damals über den Verhandlungstisch gerutscht ist. Das Ergebnis zeigt sich heute: Von einem Einwanderungsgesetz ist die Bundesrepublik so weit entfernt wie eh und je, von einer Erweiterung des Begriffs der politischen Verfolgung (etwa auf sexuelle Diskriminierung und Bedrohung) ist keine Rede mehr, und die vielbeschworene Bekämpfung der Fluchtursachen in den Heimatregionen wird karikiert durch eine nüchterne Zahl: Für die internationale Flüchtlingshilfe verlangt die Bundesregierung ihren Bürgern gerade mal 80 Steuerpfennige im Jahr ab. Vera Gaserow
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