„Arafat hat unseren Traum zerstört“

■ Überraschung und Ernüchterung in der PLO-Zentrale / Kritik am Kurztrip

Tunis (taz) – Jassir Arafat, der Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), hat mit seiner einsamen Entscheidung, am Wochenende nach Gaza und Jericho zu fahren, wieder einmal alle überrascht. Dies gilt auch für seine Kollegen in der Führung der PLO. Die meisten erfuhren die Nachricht aus dem Radio. Ein Führungsmitglied der PLO wies die Meldung auf Anfrage von Journalisten zunächst zurück und erklärte sie für „wahnsinnig“.

Ein anderes Führungsmitglied berichtet von einem skurrilen Telefonat mit dem PLO-Chef. Dieser habe gesagt, er werde den tunesischen Präsidenten Ben Ali besuchen, um sich zu verabschieden. „Wohin will der Präsident denn reisen?“ fragte der Gesprächspartner daraufhin ...

So erfuhren denn auch die Mitglieder der palästinensischen Delegation, die zusammen mit Arafat Ben Ali aufsuchten, als erste von den Plänen ihres Chefs. Die Verblüffung brachte alle zum Schweigen.

Auch in den PLO-Büros herrschte Schweigen und Verwirrung, als die Nachricht schließlich bestätigt wurde. „Wir wissen nichts, Gott allein weiß, warum der Chef seine Meinung geändert hat,“ hieß es am Mittwoch abend. Seit Wochen hatten Arafats Mitstreiter Druck auf ihn ausgeübt, so schnell wie möglich nach Gaza und Jericho zu reisen. Alles sei von dieser Rückkehr abhängig, argumentierten sie, die palästinensischen Institutionen und die Verwaltung seien gelähmt, die von Arafat eingesetzte „Nationale Autorität“, die palästinensische Regierung der Autonomiegebiete, könne nicht arbeiten, wenn der „Präsident“ der Regierung sich weigere, zurückzukehren.

Arafat hielt dem entgegen, er wolle nicht mit leeren Händen zurückkehren und werde nicht reisen, solange die internationale Gemeinschaft nicht die zugesagten 2,4 Milliarden Dollar bewilligt habe. Mit dieser Finanzhilfe sollen der Aufbau der Infrastruktur und die Kosten der palästinensischen Verwaltung und Polizei beglichen werden.

Der Internationale Währungsfond (IWF), in dieser Angelegenheit Zahlmeister, stellte Bedingungen, die Arafat mißfielen. So entwarf der IWF ein Budget und forderte darüber hinaus die Einrichtung einer Kontrollbehörde, die Einnahmen und Ausgaben überwacht. Arafat, der gewohnt ist, die Kasse der PLO selbst zu verwalten, stellte die Forderung, die Aufbauhilfe direkt an seine Organisaion zu überweisen. Dazu kommt, daß einige Geberländer säumig bei der Überweisung der zugesagten Gelder waren. So setzte er den Termin seiner Rückreise als Druckmittel ein, um das Geld zu seinen Bedingungen zu bekommen.

Hat er nun das Geld erhalten? Niemand der führenden PLO- Funktionäre gibt darauf eine klare Antwort. In gut informierten Kreisen heißt es, der palästinensische „Wirtschaftsminister“ Mohammed Qurai, bekannt als Abu Alaa, der derzeit in den USA ist, um mit dem IWF zu verhandeln, habe positive Signale nach Tunis gesandt. Die Rede war von 620 Millionen Dollar, die nun freigegeben worden seien.

„In der letzten Zeit gab es in der internationalen Gemeinschaft eine positive Tendenz und mehr Verständnis für die Notendigkeit, die Palästinenser finanziell zu unterstützen“, meint auch Meran Kanafani, der Pressesprecher Arafats. „Diese Finanzhilfe hat nicht nur wirtschaftliche Bedeutung, sondern sie ist auch wichtig für den gesamten Friedensprozeß.“

Ein weiteres Problem, das die Reise des PLO-Chefs aufschob, ist die Verzögerung der Freilassung von insgesamt 5.000 palästinensischen Gefangenen durch die israelischen Behörden, wie sie im Kairoer Abkommen vom 4. Mai festgelegt worden war. Auch nach der Freilassung von weiteren 350 Personen am Mittwoch sind noch immer nicht alle wieder auf freiem Fuß.

Arafat erhielt mehrere Briefe von Gefangenen und ihren Familien, in denen sie ihm vorwarfen, er kümmere sich nur um das Geld und ignoriere ihre Probleme. In den letzten Tagen gab es im Gaza- Streifen und in Jericho mehrere Demonstrationen, auf denen die Freilassung aller Gefangenen gefordert wurde. Oppositionelle palästinensische Gruppen, allen voran die islamistische Hamas-Bewegung, nutzen dies, um Arafat zu attackieren. Ob es in dieser Frage israelische Zusicherungen gibt, ist nicht bekannt.

Trotz der bevorstehenden Reise des PLO-Chefs in die Autonomiegebiete herrscht in den PLO-Kreisen in Tunis Ernüchterung über Arafats Kurztrip. „Das ist eine Schande. Was bedeutet ein dreitägiger Besuch? Er hat unseren Traum zerstört“, sagt ein Mitarbeiter der PLO. Mit dem Traum ist der Traum der Rückkehr gemeint, ein Thema, das in der palästinensischen Gesellschaft eine fast schon religiöse Bedeutung hat.

Viele hatten in der Rückkehr Arafats eine Krönung ihres Kampfes gesehen, eine Erfüllung ihres Traums. Umgekehrt möchte Israel alles vermeiden, was der Reise eine besondere symbolische Bedeutung gibt; Arafat erhielt mehrere Botschaften dieses Inhalts. So werfen enttäuschte PLO-Mitarbeiter Arafat jetzt vor, er mache „Geschäfte“ mit Israel. Khalil Abied