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Unverständnis herrschte allerorten über die neue Regierung. Aber die Koalition der Sozialdemokraten mit der konservativen LDP hat eine Logik: die Verteidigung des staatlich geregelten Japan gegen westliche Umstrukturierung. Aus Tokio Georg Blume

Das vereinigte alte Japan regiert

Am deutlichsten reagierten am Donnerstag die japanischen Wirtschaftsführer auf den überraschenden Regierungswechsel in Tokio. Es handele sich beim neuen Kabinett wohl nur um eine „Notlösung“, empörte sich der sonst zu äußerster Zurückhaltung verpflichtete Präsident des Arbeitgeberverbandes und Toyota-Vorsitzende Shoichiro Toyoda. „Ich fühle mich sehr unwohl und verwirrt“, gestand Yotaro Kobayahi, Chef des Kopiererherstellers Fuji Xerox, „weil es nicht gerade im Trend liegt, von einem Sozialdemokraten geführt zu werden.“ Mitsubishi-Boß Takeshi Nagano versuchte seine Kollegen schließlich zu beruhigen: „Diese Regierung wird nicht lange überleben“, ahnte der konservative Konzernleiter.

Tatsächlich erschienen den meisten Japanern noch am Tag nach der Wahl ihres neuen sozialdemokratischen Regierungschefs die Entwicklungen in Tokio unverständlich und konfus. „Liberaldemokraten und Sozialdemokraten, die sind doch wie Feuer und Wasser. Die werden nie zusammenfinden“, wunderte sich der Bankangestellte Harunori Aida aus Tokio. „Die Regierung wechselt so oft, da kann sie sich gar nicht mehr um die Belange der Bürger kümmern“, empörte sich die Supermarktangestellte Hanako Nakagone. Dennoch zeigten die meisten Japaner weniger offene Verärgerung als vielmehr Erstaunen darüber, daß der linke Sozialdemokrat Tomiichi Murayama nun Japan regieren würde. Längst ist den meisten der Überblick über die sich scheinbar täglich verändernde Parteienlandschaft verlorengegangen. Zudem wissen die Japaner, wie wenig Einfluß ein Premierminister auf die tatsächliche Politik hat, die maßgeblich von der elitären Ministerialbürokratie bestimmt wird.

Dennoch war den jüngsten Ereignissen ihre Logik nicht völlig abzusprechen. „Ich sehe das Risiko, daß diese Regierung viel länger überleben wird, als die meisten heute erwarten“, warnte Jesper Koll, Chefökonom des britischen Wertpapierhauses Warburg Securities in Tokio. „Denn diese konservative Regierung wird von der Überzeugung zusammengehalten, daß das alte Gesellschaftsmodell für Japan noch immer die beste Zukunft verspricht.“

Die japanischen Wirtschaftskreise ergriff gestern Panik. Denn nun war plötzlich die Gefahr am Horizont, daß die neue Regierung das Rad der neoliberalen Reformen zurückdrehen würde: und zwar zum Nachteil der großen Unternehmen und ihrer Wertpapierverkäufer, denen das bisherige Regierungsprogramm auf den Leib geschrieben war. Deregulierung, Marktöffnung, Steuersenkung für Besserverdienende – mit diesen Forderungen, wenngleich nur in den Anfängen umgesetzt, hatte sich die gefallene Regierungskoalition seit einem Jahr die Unterstützung der einflußreichen Arbeitgeberverbände, aber auch der Gewerkschaften gesichert, die in Japan die Interessen der gutverdienenden städtischen Mittelschichten vertreten.

Der brillante Machttaktiker und Chefideologe Ichiro Ozawa avancierte während des letzten Jahres schnell zum unumstrittenen Führer der neoliberalen Reformbewegung. Seine politischen Forderungen zielten auf langfristige Veränderungen im gesellschaftlichen System: So wollte Ozawa die Macht der Bürokratie beschneiden und die Rolle der japanischen Selbstverteidigungsarmee neu bestimmen, nicht um sie zu vergrößern, wohl aber um ihr neue Aufgaben unter dem Helm der Vereinten Nationen zuzuweisen. Schließlich verlangte Ozawa von den Japanern mehr Eigeninitiative und Selbstverantwortung: „Wir sollten nur ein Minimum an Regeln zur Kontrolle des wirtschaftlichen und sozialen Lebens beibehalten und auf eine grundsätzliche Laisser- faire-Politik umschalten“, forderte Ozawa in seinem Bestseller „Plan für ein neues Japan“.

Ozawas Buch wurde in Japan inzwischen 700.000mal verkauft. Nie zuvor war eine politische Streitschrift in Japan auf solch breites Interesse gestoßen. Nie zuvor schwangen in der täglichen politischen Diskussion so grundsätzliche Fragestellungen an das japanische Gesellschaftsmodell mit.

Doch die Zeit lief auch gegen Ozawa. Gestern mußte er sein Amt als Generalsekretär der Erneuerungspartei niederlegen, um für das rasche Ende der alten Koalitionsregierung Verantwortung zu übernehmen. Obwohl bei der Wahl zum Premierminister am Mittwoch 214 Abgeordnete für das Ozawa-Lager stimmten, 31 Parlamentarier mehr als die bisherigen Regierungsparteien in ihren eigenen Reihen zählten, ist nun ungewiß, ob die insgesamt acht Parteien auch in der Opposition zusammenhalten und Ozawas klare ideologische Positionen weiter verfechten.

„Vor einem Jahr einigte der Rebell Ozawa die Opposition im Kampf gegen die Liberaldemokratische Partei“, bemerkt Jesper Koll. „In diesem Jahr haben sich nun die Konservativen gegen den Rebellen Ozawa vereinigt.“

Was die Liberaldemokratische Partei (LDP) und die Sozialdemokratische Partei Japans (SDPJ) jetzt zusammenbrachte, hat in der Tat viel mit dem politischen Gegner zu tun. Noch vor einem Jahr verzeichneten die beiden Altparteien schwere Einbrüche bei den Parlamentswahlen, weil ihre Ideen einer längst abgelaufenen Zeit entstammten. Die LDP führte damals einen Wahlkampf gegen die sozialistische Gefahr, obwohl das nach dem Ende des kalten Krieges niemanden mehr berührte. Die SDPJ ihrerseits hatte außer einem braven Verfassungspatriotismus nicht viel zu bieten.

Inzwischen aber haben beide Parteien einen neuen Gegner gefunden. Seit Jahrzehnten wird die LDP vorrangig von Bauern, Ärzten, Kleinunternehmern und der ländlichen Bevölkerung gewählt. Auch die SDPJ hat vor allem in den Städten Stimmen verloren, während ihre Anhänger auf dem Land, die Angestellten kleinerer Firmen und viele ältere Wähler der Partei treu blieben. Die Interessen dieser Leute galt es nun gegen die neuen Regierenden zu verteidigen. Alte ideologische Streitpunkte, wie etwa die Rolle der Armee, rückten zunehmend in den Hintergrund. Natürlich entstand daraus nicht über Nacht eine strategische Koalition für die kleinen Leute. Zu lange hatte man sich politisch bekämpft, und noch heute fällt es der neuen Regierung schwer, den Japanern zu erklären, warum denn die alten Meinungsunterschiede plötzlich keine Rolle mehr spielen.

Aber auch die neue Regierung hat ihrerseits in der Person des gestern vereidigten Finanzministers Masayoshi Takemura einen politischen Vordenker gefunden. Takemura ist Vorsitzender der dritten und kleinsten Regierungspartei, „Sakigake“, die eine Reihe konservativ-liberaler Politiker vereinigt, die im letzten Jahr die LDP verließen. Takemura war mit seinen Thesen zum „kleinen Japan“ in den letzten Monaten darin erfolgreich, eine ideologische Gegenposition zu Ozawa aufzubauen. Während Ozawa zur „Normalisierung“ der japanischen Nation aufrief, forderte Takemura nach wie vor eine Sonderrolle für Japan, indem er etwa mit Hinweis auf den Zweiten Weltkrieg eine besonders vorsichtige Außenpolitik gegenüber den asiatischen Nachbarstaaten anmahnte.

Zum Kristallisationspunkt für die neuen politischen Fronten avancierte schließlich die Steuerfrage. Finanzminister Takemura verkündete bereits gestern, daß für ihn die bisher vorgesehene Steuerreform zugunsten der Besserverdienenden nicht in Frage komme. Damit besteht die neue Regierung auf dem noch von der amerikanischen Besatzungsmacht eingeführten Steuersystem, das den Reichen einen Einkommenssteuerabzug von 50 bis 65 Prozent beschert, während Normalverdiener zwischen 15 und 25 Prozent Einkommensteuer zahlen. Die Amerikaner wollten damit ursprünglich die Entstehung einer Mittelklasse im noch feudalen Japan sichern. Verbunden mit der egalitären Gehaltspolitik der Unternehmen aber sichert das Steuersystem Japan noch heute eine im Vergleich zum Westen weit gleichmäßigere Einkommensverteilung.

Insofern aber hat der Streit um das neue und alte Japan mit der Wahl Murayamas gerade erst begonnen. „Die Revolution ist noch nicht vorbei“, versprach der Politologe Takao Toshikawa. „LDP und Sozialdemokraten werden sich noch zerreißen. Wir sehen erst den Beginn eines neuen Zweiparteiensystems.“

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