„Stehlen, um zu überleben“

■ Ein Jahr neues Asylgesetz / terre des hommes: Hamburg verstößt gegen Menschenrechte und die Uno-Kinderschutzprävention Von Kai von Appen

Das Kinderhilfswerk „terre des hommes“ hat dem Hamburger Senat ein Jahr nach Inkrafttreten des neuen Ausländergesetzes „Menschenrechtsverletzungen“ vorgeworfen. Der sogenannte „Asylkompromiß“ treibe Flüchtlinge in die Illegalität und verstoße gegen Uno-Rechte. Terre des hommes-Chef Jochen Menzel: „Es ist der Punkt gekommen, wo ziviler Ungehorsam angesagt ist.“

Die staatlichen Institutionen melden Vollzug. Ein Jahr nach der faktischen Abschaffung des Asylrechts konstatiert Innenminister Kanther, das Ziel sei „weitgehend erreicht“. In den ersten fünf Monaten 1994 registrierten die Behörden nur noch knapp 54.000 Flüchtlinge gegenüber 193.000 Asylsuchenden des Vorjahreszeitraums. Die Zahl der Abschiebungen nach dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz verdreifachte sich. 91.000 Menschen wurden bereits an den Grenzen abgewiesen.

Die andere Seite der „Medaille“: Immer mehr Flüchtlinge tauchen unter, um sich der Zwangsrückkehr zu entziehen. Allein in Hamburg verschwanden zwischen Juli und Dezember 1993 offiziell 2789 Personen in die Illegalität – hinzu kommt die Dunkelziffer sowie die große Zahl von „illegal“ Eingereisten. Bundesweit sind 100.000 Menschen untergetaucht – darunter Familien und Minderjährige.

„Für Untergetauchte entfällt jede Art staatlicher Leistung,“ prangert Menzel an. Sie erhielten weder Sozialhilfe noch Lebensmittel oder medizinische Betreuung. Wenn sie nicht irgendwo unterschlüpfen könnten, seien sie obdachlos. Um überleben zu können, müßten sie sich der Willkür bei Schwarzarbeit aussetzen. Menzel: „Wenn Freunde und Arbeit nicht zu finden sind, bleiben nur Ladendiebstahl, Prostitution und die Versuchung des Drogenhandels – Kriminalität wird zur überlebens-notwendigen Folge des illegalen Aufenthalts.“

Während früher das Ausländergesetz noch die Chance bot, eine Duldung zu bekommen, wenn im Heimatland Leib und Leben bedroht waren, werde nun rigoros abgeschoben – oft ohne rechtliches Gehör. Selbst Minderjährige geraten, so der Vorwurf, immer mehr in die Klauen der Abschieber. So würde das Alter von Kindern einfach auf 16 Jahre „hochgeschätzt“, um diese dann ohne Vormund abschieben zu können oder Minderjährige über 16 Jahren – trotz festen Wohnsitzes – einfach in Abschiebehaft gesteckt. Dieses Vorgehen verstößt laut terre des hommes gegen die Uno-Kinderschutzprävention. Menzel fordert: „Der Kinder- und Jugendschutz muß ausdrücklich Vorrang vor dem Ausländerrecht haben.“ Er fordert Kirchen und die Bevölkerung auf, Flüchtlingen aufzunehmen oder sie zu verstecken, bis ihre Verfahren rechtlich korrekt abgeschlossen seien.

Unterdessen haben sich die Innenminister von Bund und Ländern nicht auf einen Abschiebestopp für Kurden einigen können. Obwohl diese Maßnahme in Hamburg bis gestern befristet war, werden vorerst nach Angaben von Innenbehördensprecher Peter Kelch keine Kurden aus den direkten Kriegsgebieten in ihre Heimat abgeschoben – wer hingegen aus der Nachbarprovinz kommt, hat Pech gehabt. Für ihn steht der Abschiebeflieger in Fuhlsbüttel weiterhin bereit.