Gut inszeniert ist halb gewonnen

Peter Grafe leistet politische Aufklärung und setzt die Wahlkämpfer ins Recht/ Eine Analyse der Parteienwerbung für die Gebildeten unter ihren Verächtern  ■ Von Hans Monath

Das widert uns gehörig an: Von den unvermeidlichen Plakaten glänzen wieder dumme Sprüche („Sicherheit statt Angst“). Den Briefkasten verstopfen Faltblätter und Broschüren, die wir nicht bestellt haben. In den TV-Nachrichten vollziehen Spitzenpolitiker die rituelle Beschimpfung des Gegners. Es ist Wahlkampf. Wir rümpfen die Nase. Wer soll denn all die Lügen glauben? Da wir die vielen Millionen für Spots, Anzeigen und Werbegeschenke aber auch noch selbst bezahlen müssen, drängt sich jedesmal die Frage auf: Muß der Zirkus wirklich sein?

Er muß, meint Peter Grafe und nimmt in seinem Buch „Wahlkampf“ wenig Rücksicht auf liebgewonnene Überzeugungen des aufgeklärten Bewußtseins. Der Politikberater, Kampagnenmacher und Publizist zitiert ohne eine deutliche Erklärung des Abscheus den Soziologen Joseph A. Schumpeter. Für diesen „fällt der typische Bürger auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung, sobald er das politische Gebiet betritt“. Und weiter: „Er wird wieder zum Primitiven. Sein Denken wird assoziativ und affektmäßig.“

Diesen „typischen Bürger“ gilt es als Wähler zu gewinnen, und Peter Grafe zeigt in allen Einzelheiten, welche Anstrengungen zu diesem Ziel im Zeitalter der elektronischen Kommunikation unternommen werden. Spricht da also ein moderner Techniker der Macht, der das machiavellistische Gebot des Schweigens bricht und einen Blick in sein geheimes Repertoire gewährt?

Mit kaum einer Einschätzung könnte man die Absicht des Autors weiter verfehlen. Auf der Ebene der Kampagnentechnik nämlich bleibt Grafe nicht stehen, obwohl er dazu so viel Erhellendes und Amüsantes zu berichten hat, daß die Wahlkampfbeobachtung nach der Lektüre zur dankbaren Aufgabe wird.

Aus dem Autor spricht ein scharfsinniger Kritiker des politischen Systems mit Sinn für Realismus und der Fähigkeit zur griffigen Darstellung. Zudem scheint Grafe bei seinem Bemühen, die Wähler zu beeinflussen, mehr Achtung für diese entwickelt zu haben als etwa mancher intelligente Kommentator, der genau weiß, daß das Ausmalen der drohenden Öko-Katastrophe der SPD postwendend zum Sieg bei der Bundestagswahl verhelfen würde. Grafe weiß: Es gibt eine Logik der Bedürfnisse und der Gefühle. Sie heißt es anzusprechen.

Der Autor geht sein Thema von den Wurzeln an: Er untersucht den Zusammenhang von politischer Kommunikation und gesellschaftlichem Wandel. Der Wahlkämpfer ist durch die Tatsache gefordert, daß in der Bundesrepublik gewachsene politische Deutungsmuster und Selbstverständlichkeiten sich auflösen. Auf alte Bindungen zu den Parteien, die auf Milieus oder festen Weltbildern beruhen, kann niemand mehr setzen. Zur Unterscheidung der Parteien bleiben nur noch „einige rhetorische Differenzen, aktuelle Kompetenzvermutungen und Personen“.

Im täglichen Geschäft der politischen Kommunikation müssen Bindungen neu geschaffen werden. Vereinfachung ist unumgänglich, wenn der formale Gleichheitsgrundsatz der Demokratie (eine Stimme für jeden Bürger) Gültigkeit hat und 60 Millionen Menschen, darunter auch weniger gut informierte Zeitgenossen, über Politik abstimmen sollen. Menschen, die kein Parteiprogramm durchackern, keinen Leserbrief schreiben, deren politische Einflußnahme sich auf das Kreuzchen auf dem Wahlzettel beschränkt.

Wir leben im Fernsehzeitalter, und der Autor verspricht noch Schlimmeres: Die Personalisierung politischer Auseinandersetzung. Die Vereinfachung wird noch zunehmen. Das Medium Fernsehen richtet die Präsentation von Politik auf seine Bedürfnisse zu. Die Polarisierung auf zwei Kandidaten, die weniger nach Programmaussagen als nach Glaubwürdigkeit und Vorleben beurteilt werden, ist in den USA gängige politische Praxis.

Wenn wir Peter Grafe glauben wollen, so steht ähnliches auch der Bundesrepublik unweigerlich bevor. Dabei wird nicht ganz deutlich, ob der Publizist diese Entwicklung nur für unvermeidlich hält oder gar begrüßt. Sein Enthusiasmus läßt fast letzteres vermuten.

Einen emphatischen Begriff von Kommunikation entwickelt Grafe nämlich nicht. Er träumt nicht vom herrschaftsfreien Diskurs, eröffnet nirgendwo die kultur- und gesellschaftskritische Perspektive auf etwas Verlorengegangenes, das es nie gab.

Für Schriftgläubige bedeutet das Buch eine einzige Zumutung: Ja spielen denn Thesen und Programme gar keine Rolle mehr? Als Bindeglied und Motivationsmittel für die Parteimitglieder sehr wohl, meint der Autor. Das heißt nicht, daß Inhalte unwichtig sind. Eine schlechte Politik, so ist er überzeugt, läßt sich von den pfiffigsten Werbern und mit allem Geld der Welt nicht verkaufen – so wenig, wie sich Themen „machen“ lassen, die keine sind.

Nach außen wirken über das Fernsehen transportierte Inszenierungen und geschickt gewählte Zeichen mehr als jede Programmaussage. Wie zerstörte Hillary im amerikanischen Wahlkampf, den Grafe gern als Beispiel anführt, noch gleich das schädliche Image von der „Emanze“? Stellte sie sich etwa hin und erklärte, sie schätze Hausfrauen? Nein, sie plagte sich vor laufenden Fernsehkameras beim Plätzchenbacken und war fortan in den Herzen der Wählerschaft eine gute Ehefrau, die ihren Mann nicht dominierte. Der jüngste Aufschwung für Helmut K. widerspricht Grafes Argumentation nicht. Vom Wechselfieber des Jahresanfangs scheinen die Deutschen wieder in die alte Duldungsstarre gefallen zu sein.

Dem von Wilhelm Bürklin und Dieter Roth herausgegebenen Sammelband zum „Superwahljahr“ ist dieser Stimmungswechsel schlechter bekommen. Die Beiträge, meist am Soziologen- und Politologenschreibtisch geschrieben, lassen trotz aller Methodendiskussion, trotz aller Zahlentabellen mit Wahlergebnissen und trotz aller Wissenschaftlichkeit den Wechsel im Herbst als so gut wie sicher erscheinen. Wishful thinking? Neben Grafes Buch, das Unverbundenes verknüpft und Lust macht auf Beobachtung, bleibt der Sammelband als Nachschlage- und Vertiefungswerk, der Detailstudien zu einzelnen Parteien und Problemfeldern bietet.

Es schmerzt, daß Grafe mit einem der intelligentesten Bücher zum „Superwahljahr“ ausgerechnet Helmut Kohl bestätigt. Der sagte nach der Europawahl: „Man muß schon ein bißchen was von den Leuten verstehen, wenn man über Wahlen redet.“ Aber das läßt sich auch positiv deuten: Daß solch ein Satz endlich einmal von einem Aufklärer unterschrieben wird, ist ein wahrer Hoffnungsschimmer.

Peter Grafe: „Wahlkampf. Die Olympiade der Demokratie“. Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 1994, 228 Seiten, 28 Mark

Wilhelm Bürklin und Dieter Roth (Hrsg.): „Das Superwahljahr“. Bund Verlag, Köln 1994, 232 Seiten, 29,80 Mark