Die Reserve gibt keine Ruh'

Erstmals dürfen bei einem WM-Turnier alle 22 Spieler auf die Bank und jederzeit eingewechselt werden, aber der erhoffte Friede im Team bleibt aus  ■ Von Uwe Janßen

Auch auf dem Fußballplatz: Links lahmt die deutsche Mannschaft. Spiel für Spiel scheitert dort der Weltmeister „Andy“ Brehme im Bemühen, seine Profession in adäquater Weise auszüben. Daß dem Linksverteidiger die rechte Form fehle, mag sein Trainer freilich auch nach dem dritten mäßigen Spiel nicht attestieren, vielmehr verweigere das rechtslastige Mittelfeld konsequent Hilfe. Nicht „eng“ genug sind Berti Vogts deshalb links „die Räume“.

Obschon bei jedem Auftritt bestätigt, zeitigte Vogts' Erkenntnis keine Folgen: Brehme blieb überfordert, seine Isolation durch die Kollegen wurde chronisch. So entwickelte sich, was Vogts bereits vor den Titelkämpfen fürchtete wie Maradona eine Entziehungskur: Die mannschaftsinterne Opposition meldete sich zu Wort. Und zwar ausgerechnet in Person des braven Debütanten Martin Wagner: Durch mich würden endlich auch Flanken von links kommen“, sagt Wagner jetzt, „außerdem könnte ich defensiv zumachen, wenn Andy marschiert.“

Zahlen lügen. Sieben Punkte, erster Platz in der Gruppe – Ziel statistisch erreicht, ohne jedoch, wie Vogts sagt, „die Wolke der Begeisterung zu erklimmen“. Es ist Erfolg, und keiner jubelt. Im Gegenteil. Wider alle Sportgesetze fordern gar Mitläufer wie Wagner: „Change the winning team.“

Im Fall des Mißerfolgs, ja, da hat der arme Trainer schon mit Stänkerei seiner Auswechselspieler gerechnet und deshalb vor der WM prophylaktisch „nach hartem Kampf“ (Vogts) eine Regeländerung erstritten. Sein Widersacher dabei hieß Altersstarrsinn, und die U-90-Auswahl des Weltfußballverbandes FIFA galt auf diesem Gebiet lange als unschlagbar.

Doch Vogts fand beim vorweltmeisterschaftlichen FIFA-Workshop in New York schnell Mitstreiter unter seinen Trainerkollegen, die bei Erhalt des Status quo um den Mannschaftsfrieden fürchteten, denn die Sache verhielt sich so: Sechs von 22 Kickern wurden vor jedem Spiel aussortiert, und sie, die offenkundig nicht einmal zum Ersatzmann taugten, mußten von der Tribüne zusehen, wie die Konkurrenz die Chance erhielt, vor den Augen der Weltöffentlichkeit Ruhm und Marktwert zu mehren.

Journalisten kümmerten sich derweil um die vergrätzten Stars und veröffentlichten deren frustrationsschwangeren Protest. „Die Medien“, weiß Vogts, „haben darauf nur gewartet.“

Wie 1982 in Spanien. Damals war es der Hamburger Horst Hrubesch, der seine Wut in Zeitungen kundtat. Beim Spiel gegen England stellte Trainer Derwall ihn nicht auf, er verfaßte, in Personalunion erzürnter Nationalspieler und Kolumnist einer Lübecker Zeitung, fernab vom Spiefleld böse Angriffe auf den Coach, kurz: Derwall sei „feige“.

Derwall verzichtete auf jede Sanktion, obwohl Hrubesch noch beim klärenden Gespräch, so ein Ohrenzeuge, „gebrüllt hat wie ein Stier“. Irgendwie verstand ihn der liebe Jupp sogar: „Gute Reservisten sind schlechte Reservisten.“

Vogts' Erfahrungen sind andere. Deshalb warb er bei den Herrschaften der FIFA zäh und erfolgreich um Regeländerung: Erstens darf heuer jeder vorläufig Ausgemusterte auf seinen Einsatz hoffen. Die alte Dreiklassengesellschaft – Spieler, Bankdrücker, Tribünenhocker – ist damit Geschichte. Zum zweiten nimmt der gesamte Pool der Reservespieler am Spielfeldrand Platz – medial unerreichbar. Das mindert kaum deren Bitternis, wohl aber die Wahrscheinlichkeit, daß sie in die Heimat reportiert wird und dann, sozusagen als transatlantischer Return, für Zwist sorgt.

Ob Effenberg das mittlerweile weiß? Und Wagner, der schon in der Vorbereitung Intrigen witterte? Oder Mario Basler, der moniert, daß „aus der zweiten Reihe überhaupt nicht aufs Tor geschossen wird“ und seinen Einsatz im selben Atemzug empfiehlt: „Ich bin der Mann dafür“?

Günter Hermann jedenfalls, der wußte das. Der damalige Bremer, heute abgestiegen zu Hannover 96, verhielt sich während der Weltmeisterschaft 1990 in Italien, so die FAZ, wie „die Inkarnation der gelernten Demut“. Er durfte nicht ein einziges Mal auf der Auswechselbank sitzen, geschweige denn spielen. Diese Genügsamkeit hat Günter Hermann formell zum Weltmeister befördert; er saß auf der Tribüne und schwieg, abgesehen von Stellungnahmen wie: „Mein Sohn sagt, ich soll endlich nach Hause kommen.“

Um solche Atmosphäre zwischen Aktiven und Komparsen bemühten sich mit anderen Mitteln schon Vogts' Vorgänger Sepp Herberger und Jupp Derwall. Sie verzichteten 1958 beziehungsweise 1982 darauf, die zulässige Zahl von 22 Spielern zu nominieren. Das „Problem“ meuternder Reservespieler habe so in beiden Fällen „reduziert werden“ sollen, sagt Derwall. Es war, siehe oben, nicht die glücklichste Lösung.

Bundestrainer Helmut Schön hatte es 1970 mit der Einführung des „Kapitäns der Reservespieler“ versucht, der sich um deren Nöte zu kümmern hatte. Dieses Amt übertrug Schön dem deutschen Rekordreservisten Max Lorenz, 53mal nur Ersatz (!), der sich bei der WM 1966 dafür empfohlen hatte. Lorenz, seinem ersten Einsatz entgegenfiebernd, hatte zwei Stunden vor dem Finale erfahren, daß nicht er, sondern Lothar Emmerich gegen England spielen würde: „Max, du brauchst dich nicht umzuziehen.“ Lorenz machte, heutzutage undenkbar, keine Affäre aus der Angelegenheit. Ein paar Whisky-Cola später war seine Welt wieder in Ordnung.

Doch daß auch die Masche mit dem „Kapitän der Reservespieler“ keine Gewähr für Frieden lieferte, belegte Willi Schulz, der auf seine Degradierung zum Ersatzspieler reagierte, indem er 1970 zum Spiel um den dritten Platz gegen Uruguay ganz zufällig seine Schuhe „vergaß“.

Nicht besser: die Torhüter, Dauerthema auch dieser Weltmeisterschaft. Stammtorwart Bodo Illgner entkräftet regelmäßig Vogts' Motiv für seine Aufstellung („große internationale Erfahrung“), und Konkurrent Andreas Köpke stichelt bereits: „Man hätte auch Argumente für mich finden können.“ „Wenn man die Bundesliga-Saison als Maßstab nimmt“, sagt wiederum der dritte Tormann Oliver Kahn, „stehe ich mit Sicherheit ganz oben.“ Seine verordnete Tatenlosigkeit mache ihn „aggressiv“.

Zur Beruhigung schuftet Kahn gemeinsam mit Leidensgenosse Köpke zuweilen eineinhalb Stunden vor dem offiziellen Training in Sonderschichten – erfahrungsgemäß eine riskante Einstellung. In ähnlicher Hitze wie derzeit in den USA absolvierte Klaus-Dieter Sieloff 1970 in Mexiko ein immenses Trainingsprogramm, doch just als Schön insgeheim die Aufstellung des Mönchengladbachers beschlossen hatte, sank Sieloff verausgabt zu Boden. „Seine Nominierung“, sagt der damalige Schön- Assistent Jupp Derwall, „war damit hinfällig.“

Das neue Statut, das genehmigte Nebeinander aller Spieluntauglichen, dient zwar der vom Bundestrainer geforderten „Einordnung“ derer, die er euphemistisch „Ergänzungsspieler“ nennt und die ein Schicksal teilen: „Sie müssen anerkennen, daß sie die nötige Klasse nicht haben.“ Doch Vogts verlangt sozusagen die Quadratur des Balles, nämlich Harmonie im Syndikat der Egoisten, die „meine Entscheidungen einfach akzeptieren müssen“. Grotesk.

Analog zu Bertis sportlichen Erfolgen haften an Vogts' Sieg bei der FIFA Mängel. Der Sportpsychologe Henning Allmer, der an der Deutschen Sporthochschule Fußballehrer ausbildet, sagt: „Das Problem ist kaschiert, aber nicht gelöst. Der Trainer muß immer noch auswählen.“ Das suggerierte „Wir-sitzen-alle-in-einem-Boot- Gefühl“ sei trügerisch, denn: „Auch jetzt darf nicht jeder mitrudern.“

In der Tat wurde lediglich die Plazierung der potentiellen Querulanten im Stadion verändert. Ein bißchen Frieden. 90 Minuten Pause, bevor es wieder losgeht. Und dann stehen die Chancen auf Streit besser denn je.

173 Journalisten kümmern sich ausschließlich ums deutsche Team, auf daß jede defätistische Äußerung publik werde, meist begleitet von bösen Co-Kommentaren der Herren Feldkamp („Ich bezweifle, daß die Mannschaft topfit ist“), Schuster, Rummenigge oder des omnipräsenten Beckenbauer, der seinen Nachfolger allzugern in einer eigenen Sendung bei „premiere“ lehrmeistert.

Vogts' Erfolg über die FIFA- Obrigkeit hat die Rahmenbedingungen mithin nur unwesentlich verbessert. Unzufriedene Reservisten finden problemlos ihr Forum, die Zahl prominenter Systemkritiker wuchs zu nie dagewesener Größe, und – damit konnte der arme Berti wahrhaftig nicht rechnen – erstmals mosern auch siegreiche Stammspieler.

Thomas Berthold zum Beispiel, der sich über Vogts' „Schönrednerei“ mokierte: „Er kann sich nicht jedesmal hinstellen und sagen, daß wir gut gespielt haben.“

„Deshalb habe ich Berthold zurückgeholt“, sagte Vogts, und auch er grämt sich seit diesem Rüffel über den germanischen „Fußball ohne Leben“. Wohlgemerkt: So reden Sieger. Zoff ist weder regel- noch ergebnisabhängig, was selbst bei Verbandspräsident Egidius Braun, Vogts' Bruder im friedensbewegten Geiste, dunkle Ahnungen weckt: „Mir graut schon vor dem Achtelfinale.“