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■ Richard von Weizsäcker verabschiedet sich, Roman Herzog führt sich ein – zwei Reden, zwei Sichten der WeltKein Bedarf an Sinnstiftung von Amts wegen

Sinnstiftung durch Politiker muß in Deutschland mit dem Mißtrauen der kritischen Geister rechnen, denn wir hörten in diesem Jahrhundert allzu viele äußerst wichtige Grundsatzreden, denen fatalerweise auch noch Glauben geschenkt wurde. Dieses Mißtrauen richtet sich auf die Verquickung von Staatsamt und Erziehungsarbeit aus „nationalpolitischem“ Geist.

Nur scheinbar ist heutzutage das Publikum gegenüber dieser Art von Frontalunterricht immunisiert. Es tut so, als beschränke es sich darauf, die politischen Repräsentanten ausschließlich nach ihren Entertainerqualitäten zu beurteilen. Aber eigentlich hungert es nach der knappen Sinnressource, vorgetragen möglichst von weißhaariger Abgeklärtheit, selbst wenn es sich noch so desinteressiert an den vorletzten bzw. den letzten Dingen gebärden sollte. Aber in jener der drei öffentlichen Arenen, wo idealiter darüber gestritten werden soll, wer wir sind und was wir wollen, sind Staats-Moderatoren überflüssig, auch und gerade wenn sie das Präsidentenamt bekleiden.

Richard von Weizsäcker war sich des Dilemmas bewußt. Er verzichtete auf jede populistische Attitüde, verneinte ausdrücklich, es kraft einer eingebildeten Identität mit „dem Volk“ besser zu wissen als die Tagespolitiker. Er appellierte an Bürger, die er sich als selbstbewußt vorstellte. Andererseits aber konnte oder wollte er nicht gänzlich auf die Weihe und falsche Bedeutungsschwere, die mit der bundespräsidialen Rede verbunden sind, verzichten. Mit zunehmender Amtszeit fanden sich bei ihm, sei's in der Direktheit seiner Kritik, sei's in selbstironischen Wendungen, dann Elemente, die die paternalistische, mit dem Amt verbundene Symbolik unterliefen.

Auch Roman Herzog verspricht, auf Sinn-Indoktrination zu verzichten. Wer aber glaubte, die von ihm und für sich anläßlich seiner Wahl reklamierten Haupttugenden, Unverblümtheit und Unverkrampftheit, in seiner Inaugurationsansprache wiederfinden zu können, steht mit leeren Händen da. Unverblümtheit hätte es geboten, in dem Hauptteil seiner Rede, der der „Integration“ der in Deutschland lebenden Ausländer gewidmet war, konkret auf die Fragen des Staatsbürgerrechtes und der rechtlichen Regelung der Einwanderung einzugehen. Weizsäcker, vom Amt nicht mehr beschwert, fand in seinem Abschied eine erstaunlich deutliche Sprache. Von Herzog war hier, wie auch bei der Behandlung des grassierenden Rassismus, unverblümt nur der Ruf nach Polizei und Staatsanwalt zu hören. Ansonsten erging er sich über das Verhältnis von Gastrecht und Heimatrecht, zwei Begriffe, die der juristischen Präzision entbehren. Denn Heimat ist vor Gericht nicht einklagbar, und Gastrecht (oder Fremdenrecht) ist nur ein altertümlicher Begriff fürs Ausländerrecht. Über letzteres äußerte sich ein schwäbischer Liberaler des 19. Jahrhunderts mit jener Unverblümtheit, die Herzog in seiner ersten Ansprache so sehr vermissen ließ: „Man wird stets und mit ziemlicher Zuverlässigkeit von der Beschaffenheit des Fremdenrechts auf die Beschaffenheit des Regierungssystems schließen können.“

Als es um die „Modernisierungsopfer“ in unserer Gesellschaft ging, die Arbeitslosen zumal, griff Herzog, ganz und gar verkrampft, auf die Existentialphilosophie zurück und borgte sich bei ihr den Begriff der „Unbehaustheit“ aus. Hätte er ihn auf die Obdachlosen bezogen, das wäre in der Tat eine unverkrampfte präsidentiell-philosophische Reduktion gewesen! Aber Gott! Unbehaust sind wir nach Deinem Tod doch Alle!

Unverkrampftheit und Unverblümtheit ließ der neue Bundespräsident lediglich anläßlich seiner Ausführungen zur deutschen Nation erkennen. Zu Recht betont er, daß jenseits des Nationalstaats keine Instanz in Sicht ist, wo der Bürgerwille organisiert und Bürgerrechte effektiv verteidigt werden können. Wir werden in die Nation irgendwie hineingeboren bzw. hineinversetzt. Das war's dann aber auch. Wenn Herzog darauf insistiert, daß man keine deutsche Idealgeschichte destillieren kann, daß man nicht säuberlich das humanistische von dem mörderischen Erbe trennen kann, wie es weiland die DDR versuchte, wenn er leise Töne bei der Behandlung des prekären Themas empfiehlt – dann spürt man die Distanz des süddeutschen Föderalisten vor der „deutschen Identität“. Sogar Tucho hat Herzog bemüht, ein schönes Zitat aus dem so bitteren „Deutschland, Deutschland über Alles“. Hier zeigt sich Material für eine mögliche Übereinstimmung mit der Linken gegen Schäuble und die Deutschnationalen – nach gehöriger Erziehungsarbeit „von unten“. Christian Semler

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