"Oh, die schönen Tage"

■ Viel Herz und Schmerz im zwölften Wimbledon-Finale von Martina Navratilova (37): Es gewann Conquita Martinez (22)

Minutenlang klatschten 13.000. So frenetisch ist noch keine Verliererin aus Wimbledon verabschiedet worden. Wie auch? Martina Navratilova ist mit herkömmlichen Maßstäben nicht zu messen. Als sie das erste Mal auf dem Rasen der All England Championship stand, strampelte Conquita Martinez, ihre diesjährige Finalgegnerin, in der Wiege. 22 Jahre ist das her. Die 37jährige weiß: „Die Dämmerung meiner Karriere dauert länger als bei vielen die ganze Karriere.“ Als die neunjährige Martina Billie Jean Kings Wimbledonsieg am Fernseher sah, beschloß sie, „da will ich hin“. Dort war sie. 22mal. Neunmal reckten ihre Arme die Trophäe des prestigeträchtigsten Turniers in die Höhe. Sie lächelte schüchtern. Und nun hielt sie den Teller in klein in den Händen, wußte nicht so recht, wohin damit – „vorbei“.

Der Applaus für die Unterlegene war mehr als der Beifall für eine über zwei Jahrzehnte währende Laufbahn zwischen Netz und Grundlinie. Es war ein Abschiedsgeschenk. Eine Referenz des Publikums an eine große Sportlerin, die von sich selbst sagt: „Ich glaube, ich bin jetzt über den Tennisplatz hinausgewachsen.“ Selbst die Grenzen der Courts dieser Welt hat sie dauerhaft gesprengt: 40 Millionen Dollar Preisgeld, 332 Wochen lang die Nummer eins, 167 Einzel- und 164 Doppeltitel, 55 Grand-Slam-Titel, davon 18 im Einzel, 1.500 Matches gewonnen. Wer will sie noch schlagen? So hat auch am Samstag die Verliererin gewonnen. Hat sich einen Traum erfüllt, „stilvoll abtreten“. Und die Herzen der Tennisfans schwer gemacht. Sport Zürich sprach vom „letzten Hofknicks der ,Grand Old Lady‘“, und das linke Blatt Libeŕation titelte elegisch: „Navratilova, oh die schönen Tage.“ Die Schönen Tage. Vergangenheit. Dieses Finale, ihr letztes in Wimbledon, war wie geschaffen für einen Nachruf auf eine Lebende. Lud ein zum Verdrängen der Zeiten, als die kantige Spielerin aneckte – als ihre Homosexualität von einem indiskreten Fotografen geoutet wurde, was die Tschechin beinahe die Einbürgerung ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten gekostet hätte. Als sie als „Muskelmännin“ (Süddeutsche Zeitung) zum Paria der femininen Tennisszene gestempelt wurde. Als sie belächelt wurde, weil sie immer mit Schoßhündchen Killer Dog und eigenem Kissen die Hotels bereiste („um mich geborgen zu fühlen“). Als ihr keiner Bälle zuspielte, weil sie als humorloses Aushängeschild eines kommunistischen Regimes galt.

„Ich möchte noch eine einzige Chance“, hat Martina Navratilova gesagt. Sie hat sie bekommen. Und uns daran erinnert: Sie ist keine dieser Ballmaschinen, welche die Filzkugel mit der Monotonie eines Roboters übers Netz transportieren. Eine Navratilova spielt mit Herz. Tränen kullerten ihr oft über die ausgemergelten Wangen. Vor allem, wenn sie von den new kids on the court vom Felde verwiesen wurde – 1988, als sie zum erstenmal von Steffi Graf in ihrem „grünen Reich auf der Insel der erfüllten Hoffnung“ gedemütigt wurde. Vor ihrem zwölften Endspiel wußte sie: „Ich muß meine Emotionen verdrängen, sonst treffe ich keinen Ball.“ Getroffen hat sie. Gekämpft auch. „Nutz' deine Chance, greif an!“ Seit Mirek Navratil ihr sein Credo auf den Weg gegeben hat, gibt seine Adoptivtochter keinen Ball verloren. Volliert wie keine zweite: „Heute beherrscht keine Spielerin das Spiel am Netz.“ Es ist ihr Spiel. Aufschlag, Volley, Punkt. Angreifen. Laufen. Vor, zurück, links, rechts. Volles Risiko. Conquita Martinez spielte nicht mit. Die Sandplatzspezialistin passierte die „Queen of Wimbledon“ (englische Presse). Navratilova mußte anerkennen: „So gut hat mich nicht einmal Monica Seles passiert.“ Vorher hielt sie ihre Emotionen im Zaum: „Weinen kann ich, wenn das Turnier vorbei ist.“ It's over. Navratilova hat nicht geweint. Die Siegerin beinahe: „Ich bin traurig, Martina geschlagen zu haben, und doch wieder froh, es getan zu haben.“ Cornelia Heim