Die Brücke schwankt

Die Türkei, Verbindung und Übersetzerin zwischen Orient und Okzident, auf der Suche nach einem neuen kulturellen und politischen Selbstverständnis / Eine Konferenz im Berliner Haus der Kulturen der Welt  ■ Von Jürgen Gottschlich

„Gehört die Türkei zu Europa? Nein, unsere Wurzeln sind in Asien.“ Ali Bulaç, eigentlich Soziologe, aus Berufung Theologe, hat als führender islamischer Intellektueller der Türkei keine Probleme mit dem Blick nach Europa. Gute Beziehungen zum Westen, ja klar, aber dazugehören? Die Europäer wollen uns doch gar nicht nicht, warum sollen wir uns da aufdrängen? Sein Gegenspieler Mehmet Altan, Wirtschaftsprofessor und Kolumnist des Massenblattes Sabah, hat es da ungleich schwerer. Seine Beschwörungsformel vom gesellschaftlichen Konsens der Türkei für einen Beitritt zur Europäischen Union – „alle Parteien außer der Refah-Partisi, der islamischen Wohlfahrtspartei, sind sich in diesem Punkt einig“ – klingt verdächtig nach Pfeifen im Walde, vor allem weil Europa ja gerade den Türken, die an den Westen glauben, ständig die kalte Schulter zeigt; zuletzt wieder beim EU-Gipfel auf Korfu und schlimmer noch, indem Kommissionspräsident Delors jüngst drohte, die für 1997 fest eingeplante Zollunion platzen zu lassen, wenn sich die türkischen Wirtschaftsdaten nicht entscheidend verbessern.

Zwischen diesen beiden Polen bewegte sich die Diskussion auf einer viertägigen Konferenz im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Tatsächlich ging es dann nicht um die Türkei und die EU im engeren politischen Sinne, sondern um das Verhältnis der Türkei zur Moderne. Während die einen besorgt wissen wollen, ob die Türkei ein moderner laizistischer Staat bleibt, bezweifeln die anderen, daß das Land sich jemals rechtmäßig mit den Attributen eines von der Aufklärung getragenen Staates schmücken konnte.

Das Besondere an der Türkei ist, daß es für diese Kontroverse einen Namen gibt: Kemalismus. Kemalismus ist seit Gründung der türkischen Republik vor siebzig Jahren die offizielle Staatsdoktrin, und Kemalismus ist, ideengeschichtlich gesehen, Zeit seiner Existenz ein Widerspruch in sich. Die Ideen der Aufklärung wurden nicht nur nicht durch eine bürgerliche Revolution durchgesetzt (das Osmanische Reich, geführt von Sultan und Kalif in einer Person, kollabierte als Folge des verlorenen Ersten Weltkrieges), sondern wurden regelrecht befohlen. Mustafa Kemal, später Atatürk genannt, verfügte als Vorsitzender der vom Militär getragenen Staatspartei die Einführung der Republik, des Laizismus, des Frauenwahlrechts, des italienischen Rechtssystems und so weiter ex cathedra: der Sprung der türkischen Gesellschaft, das heißt der Restmasse des Osmanischen Reiches, die durch den sogenannten Befreiungskrieg gegen die alliierten Besatzungsmächte gerettet werden konnte, wurde auf Anweisung von oben nach Westen ausgerichtet.

Deshalb verficht Mehmet Altan angesichts der Krise der türkischen Gesellschaft vehement seine Parole von einer zweiten Revolution und ist sich mit dem islamischen Denker Ali Bulaç bis zu einem gewissen Punkt in der Kritik am Kemalismus sogar einig. Es war bezeichnend für die Konferenz, aber auch für die gesellschaftspolitische Debatte in der Türkei, daß der einzige eingeladene Vertreter des offiziellen Kemalismus, Mümtaz Soysal, Parlamentarier der sozialdemokratischen SHP, wegen dringender politischer Verpflichtungen nicht erschien – alle anderen waren sich, mit einigen Einschränkungen bei Professorin Zehra Ipșiroglu, zumindest in der Ablehnung des Kemalismus einig. Doch was dann? Der gegenwärtig in der Türkei stattfindende Kulturkampf zwischen Kemalisten (also hauptsächlich dem Militär), Islamisten und Vertretern einer demokratischen Erneuerung spiegelte sich bei der Berliner Konferenz nur bedingt wider. Der Vertreter des Islam war durch und durch moderat – jeder soll nach seiner Façon glücklich werden – und legte eine Abrechnung mit den Verbrechen des Nationalstaats hin, die jedem Linken zur Ehre gereicht hätte, so daß die Ängste vor einer Reislamisierung hilflos in der Luft hängenblieben.

Doch damit ist das Problem noch nicht gelöst. Die Debatte in der Türkei gleicht, so einer der wichtigsten linken Köpfe am Bosporus, Murat Belge („ich bin Weltbürger“), in vielen Punkten denen in Osteuropa: Woran soll man anknüpfen? Der Unterschied ist, daß der Kemalismus offiziell noch nicht zusammengebrochen ist und die Armee nach wie vor Gewehr bei Fuß steht, ihre Ideologie notfalls mit einem vierten Putsch an der Macht zu halten. Doch ganz ohne gesellschaftliche Grundlage geraten auch die Bajonette ins Rutschen. Angesichts immer mieserer wirtschaftlicher Ergebnisse und des zermürbenden Kurdenkrieges könnte es sein, daß sich die Vertreter einer demokratischen Erneuerung und islamische Fundamentalisten demnächst direkt gegenüberstehen, das Militär sich tatsächlich heraushält. Für diesen Fall hatte ausgerechnet einer der früheren führenden MLer der Türkei, Taner Akçam, eine hoffnungsvolle Perspektive: Wenn die Militärs sich heraushalten, glaubt er an die Chance eines neuen Gesellschaftsvertrages. Dafür steht für Akçam die islamische Refah- Partei, deren Verdienst es seiner Meinung nach ist, daß es in der Türkei noch keine ägyptischen oder gar algerischen Verhältnisse gibt. Die Refah stehe für einen Kapitalismus mit islamischem Antlitz, der sich auch mit einer laizistischen Gesellschaft versöhnen ließe. In Istanbul, wo die Refah seit den Kommunalwahlen im März dieses Jahres den Oberbürgermeister stellt, ist dieser Versuch bereits im Gange.

Zafer Senoçak: „Der gebrochene Blick nach Westen“, Babel, Berlin 1994, 305 S., 36DM