Gehirntod und Zeitgeist

■ Die Todesdefinition im Dienst der Transplantationsmedizin

Nirgends am ganzen Leib bestehe das Orgelregister des Ausdrucks aus einer solchen Vielzahl variabler Stimmen wie im Antlitz, kommentiert der Medizinhistoriker Magnus Schmid. Das Antlitz des Sterbenden und des toten Menschen spielt in der modernen Medizin keine Rolle mehr. Im Angesicht des Todes werden heute Körperdaten gesammelt. Körperdaten prognostizieren den nahen Tod, bestätigen seine Unvermeidbarkeit und dokumentieren seinen Eintritt. Bis zum Jahr 1968 mußte der Tod im Sinne des Erlöschens aller Körperfunktionen zumindest noch abgewartet werden, bevor Mediziner ihn festzustellen berechtigt waren.

1968 beschloß das Ad-hoc-Komitee der Harvard Medical School eine neue, eine pragmatische Definition des Todes. Der Hirntod, der unumkehrbare Ausfall der gesamten Hirnfunktionen bei noch aufrechterhaltener Herz- und Kreislauftätigkeit, sei auch als Tod des Menschen zu bezeichnen, behaupten seither die Experten. Weltweit wird – mit wenigen Ausnahmen – dadurch die Wegnahme von Körperteilen am lebenden Menschen möglich, ohne der Medizin den Vorwurf zu bescheren, daß sie töte, um anderen Überlebenschancen zu offerieren.

Was theoretisch eindeutig klingt, war und ist es praktisch noch lange nicht. Auch nach 26 Jahren debattiert der Kreis der Definitionsberechtigten, allen voran Mediziner, aber auch Philosophen und Theologen, über technische Nachweisverfahren und ethisch genannte Begründungen. Der maschinenlesbare Tod, ermittelt am atmenden, durchbluteten Leib, wirft Probleme auf. Wie kann die „Unumkehrbarkeit“ bewiesen werden? Welche Meßdaten müssen erhoben werden? Die internationale Kontroverse entflammt besonders da, wo es um die schnelle Überführung des Sterbenden in das Transplantationsmanagement geht: Sind Koma, Ausfall der Atmung und Hirnstamm-Reflexe dokumentiert, so muß je nach Krankheit, Medikation und Alter des Patienten bis zu 72 Stunden gewartet werden, bevor der Tod erklärt und Organe entnommen werden können.

In Großbritannien, in den USA und anderen europäischen Ländern führen jeweils unterschiedliche Zusatzdiagnostiken zu einer drastischen Verkürzung des Zeitraums. Der Tod ist eine Frage medizinischer Vereinbarung und nationalstaatlichen Konsenses geworden. Der Zeitgeist hinterläßt seine Spuren auch in den ethisch bemäntelten Begründungen der Hirntod-Definition. Einige medizinethische Kreise behaupten, der Hirntod sei der Tod des Menschen, weil Bewußtsein und Kognition das Menschsein – den Personenstatus – markiere. Diese Fähigkeiten seien im Gehirn zu verorten. Im Zeitalter von Systemtheorie und Vernetzungen aller Art gewinnt eine weitere Begründung an Boden: Der Tod der Person und des Menschen interessiere nicht. Nur das „Ende des Organismus in seiner funktionellen Ganzheit“, die „Desintegration seiner Subsysteme“, seien beim Mensch wie beim Tier gleichermaßen bedeutend. Der sterbende Mensch wird hier auf eine andere Weise seiner Individualität und seines Lebens beraubt. Er wird im wissenschaftlichen Diskurs „zum System ohne Selbstregulation“, so geschehen in der neuesten Veröffentlichung der Bundesärztekammer vom November 1993.

Sterbende, die unterstützt atmen, schwitzen, Bewegungen vollziehen und Fehlgeburten haben können, sind zu „toten Organismen“ oder „toten Personen“ umgedeutet. Der teilnehmende Blick der Anverwandten und Vertrauten wird zu einem laienhaften Blick, der den Tod nicht zu erkennen und zu verstehen vermögen soll. Das Angesicht des Sterbenden, das Antlitz des Todes mußte schon mit der ersten Hirntod-Definition unkenntlich gemacht werden, um die Illusion zu nähren, daß Medizin den Tod abschaffen könne, nicht aber für jene, die nicht zu Ende sterben dürfen. Das Transplantationsmanagement hat aus Sterbenden „Überlebensressourcen“ gemacht. Erika Feyerabend